60 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 268, K06, III

60 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 268, K06, III

Durch Neuinterpretation von vorhandenem Recht kan…
1 Stunde 26 Minuten
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Ulrike Sumfleth und Joachim Feltkamp sind Luhmani…

Beschreibung

vor 2 Jahren
Durch Neuinterpretation von vorhandenem Recht kann sich das Recht
in einem Verfahren anlässlich eines Streitfalls punktuell ändern.
D. h. durch Variation und Selektion in einzelnen Punkten
transformiert es sich im Laufe der Zeit. Dabei handelt es sich
jedoch nicht um eine zweckgerichtete Aktivität des Systems. Die
Selbständerung ist die Konsequenz der Art und Weise, wie sich das
Recht reproduziert, nämlich durch die laufende Entscheidung, ob
eine vorgeschlagene Variation akzeptiert wird oder nicht. Das Recht
erneuert sich also laufend. Darum ist die Entscheidung in einem
Streit auch keine Entscheidung zwischen altem und „neuem“ Recht.
Das neue Recht entsteht erst durch die Neuinterpretation des alten,
indem eine andere als die übliche Interpretation vorgeschlagen und
dies bejaht wird. Neues Recht entsteht epigenetisch, aus dem
jeweils vorhandenen Material entstehen neue Strukturen. Eine solche
Operationsweise setzt die Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung
voraus. Dafür schuf das Verfahren die entscheidende Voraussetzung.
Denn nur in der Form des Verfahrens legt das Rechtssystem normative
Erwartungen an sich selbst fest und beobachtet sich laufend selbst
dabei, ob es die Erwartungen in der von ihm selbst vorgeschriebenen
Weise erfüllt. Eine Variation in der Argumentation darf sich
seitdem nur noch auf geltendes Recht beziehen (und nicht mehr auf
Gott, Natur, Moral). Das gleiche gilt für die Selektion. Die
Antigone-Tragödie spiegelt wider, wie die Gesellschaft in der
Antike diese Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung noch nicht
besaß. Man haderte mit der Vorstellung einer Hierarchie von
göttlichem Recht, positivem Recht und einem individuellen Recht zum
Widerstand. Antigone musste entscheiden, ob sie gegen die Gebote
der Götter oder gegen die Gesetze der Stadt (polis) verstoßen
wollte. Ihr Untergang war so oder so besiegelt. Evolution bedeutet
jedoch nicht nur Variation und Selektion, sondern auch
Restabilisierung. In der Übergangsphase, als sich das Recht zu
einem operativ geschlossenen Funktionssystem auszudifferenzieren
begann, stieß es zunächst auf das Problem, sich in einer
Gesellschaft legitimieren zu müssen, die noch durch ein
ontologisches Weltbild geprägt war und sich den Bezug auf
göttliches Recht, Natur oder Moral weiterhin erlaubt. Das
Rechtssystem musste sich erstmal innerhalb der Gesellschaft
legitimieren, in der es ja operiert. Diese Legitimierung erfolgte
durch die Gerichtspraxis sowie durch schriftliche Fixierung von
Rechtsnormen, Rechtsmeinungen, Kategorien und Merkregeln. Diese
führten zu einer Ausdifferenzierung der Rechtslehre, mit der alte
und neue Fälle verglichen werden können. Man fängt an, den Fall an
den Regeln zu messen und die Regeln an dem Fall. Das führt dazu,
dass ungleiche Fälle ungleich behandelt und für sie neue Regeln
entwickelt werden müssen. Restabilisierung stellt das System aber
auch nach innen vor ein Problem: Sind die von ihm selbst neu
geschaffenen neuen Strukturen bei steigender Komplexität noch
praktikabel? Auf operativer Ebene ist Restabilisierung
unproblematisch: Durch Variation und Selektion ändert sich das
Recht, und das geänderte Recht liefert nun die Ausgangslage für
zukünftige Fälle. Auf struktureller Ebene sieht es anders aus. Das
Recht muss praktikabel bleiben, überschaubar und attraktiv für
seine „Benutzer“, die Jurist:innen. All dies ermöglicht der
Buchdruck. Er beseitigt das Chaos der oralen Tradition und erlaubt
Systematisierung und methodisches Vorgehen. Im Common Law des 18.
Jh. beginnt die Gesellschaft dann auch, sich für ihre Abstraktions-
und Selbstbeobachtungsfähigkeiten zu bewundern. Man bestaunt die
besonderen Leistungen, die Funktionssysteme vollbringen, und
schreibt das Können der „Nation“ zu.

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