51 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 226, K05

51 . Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 226, K05

Um die historische Entwicklung des Gerechtigkeits…
1 Stunde 1 Minute
Podcast
Podcaster
Ulrike Sumfleth und Joachim Feltkamp sind Luhmani…

Beschreibung

vor 2 Jahren
Um die historische Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs
nachzuvollziehen, muss die jeweils zugrundeliegende
gesellschaftliche Differenzierungsform mitbedacht werden. Ob die
Gesellschaft tribal, ständisch oder funktional differenziert ist,
bildet jeweils die Bedingung der Möglichkeit dafür, ein Verständnis
von Recht und Gerechtigkeit zu entwickeln. In tribalen
(segmentären) Gesellschaften war Reziprozität die praktizierte
Norm. Die Gesellschaft war nach Familien, Stämmen und Verbänden in
gleichwertige Gruppen differenziert. Diese unterstützten sich
gegenseitig, vor allem durch Produktionsüberschüsse – gleichsam die
Sozialversicherung jener Zeit. Gaben hatten eine wichtige Funktion:
Geber und Empfänger wissen beide voneinander, dass beide
voneinander wissen, dass der Empfänger einer Gabe sich bei
Gelegenheit revanchieren sollte. Jede Gabe schafft eine
unausgeglichene Situation, ein Schuldverhältnis. Das wird jedoch
nicht mitkommuniziert. Es gibt keine Rechtsinstitution, die
Ansprüche regeln könnte. Als Ersatz für die Klagemöglichkeit
fungiert die offene Konditionierbarkeit der Revanche: Ob, wann und
in welcher Form sich eine Gelegenheit bieten wird, ist offen.
Reziprozität bedeutet doppelte Kontingenz. Erwartungen treffen
aufeinander und können erfüllt oder enttäuscht werden. Die
Erwartung eines als „gerecht“ empfundenen Ausgleichs wird ohne
Termin in die Zukunft verschoben. Damit erfüllt Reziprozität die
soziale Funktion des Rechts: normative Zukunftserwartungen
kontrafaktisch zu stabilisieren. Eine Enttäuschung im Einzelfall
ändert nichts an der Erwartung. Die soziale Funktion des Rechts ist
von der gesellschaftlichen Differenzierungsform unabhängig! In der
tribalen Gesellschaft bedeutete Gerechtigkeit vor allem Verteilung
(distributiv) und Vertauschung (commutativ) sowie Vergeltung von
Schuldverhältnissen. In stratifizierten (geschichteten)
Gesellschaften, die allesamt über Schriftkultur verfügten, wurde
die Maxime der Reziprozität an die Schichtung in Adel/Volk
angepasst. Leistungen des Adels wurden höher bewertet. Die dem
Recht zugrundeliegende soziale Differenzierungsform setzte sich
fort, indem das Recht zwischen zwei Ständen differenzierte. In
komplexeren, funktional differenzierten Gesellschaften ist
Reziprozität nicht mehr praktikabel. Auch die Wirtschaft wandelt
sich nun zum Funktionssystem und spuckt „Marktpreise“ aus. Der Wert
einer Leistung ist im Verhältnis dazu kaum noch einzuschätzen. Die
Norm verliert auch deshalb ihre praktische Bedeutung, weil
Ausbildung und Profession in Recht und Politik wichtiger werden als
Herkunft. Mit den entstehenden Richterrollen ist Reziprozität
unvereinbar, weil dies schlicht Korruption bedeuten würde. Das
Rechtssystem autonomisiert sich und entwickelt aus der Idee der
Gleichheit die normative Regel, gleiche Fälle gleich zu behandeln
und ungleiche Fälle ungleich. Erst durch die Zuhilfenahme des
Begriffs der Gleichheit wird Gerechtigkeit definierbar: als
konsistentes Entscheiden innerhalb des Rechtssystems. Darin liegt
ein Abstraktionsschritt im Verhältnis zu den bisherigen
Rechtsvorstellungen. Das Rechtssystem entfernt sich von der
Einzelfallbetrachtung und reproduziert stattdessen seine eigenen
Entscheidungen. Die Betrachtung verlagert sich weg von der Frage,
was jemandem „mehr oder weniger“ zusteht (als Ausgleich oder
Strafmaß) – hin zu der komplexen Frage, wie man den Fall anhand von
rechtmäßigen Kriterien als gleich oder ungleich zuordnen kann. Die
Kriterien legt das Rechtssystem autonom fest. Es macht sie in
Textstellen identifzierbar, auf die es sich in seinem
selbstreferentiellen Netzwerk bezieht. Bedeutung gewinnt nun die
Frage, ob die Kriterien richtig/falsch zugeordnet werden.
(Vollständiger Text auf Luhmaniac.de)

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

SigiAnd
Düsseldorf
15
15
:
: