Beschreibung
vor 2 Jahren
Warum die Idee der Gerechtigkeit als „Kontingenzformel“ zu
verstehen ist. Kontingenz bedeutet zunächst ganz allgemein: Es kann
auch anders kommen. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert jedoch
nichts an der normativen Erwartung. In der Theorie sozialer Systeme
ersetzt der Begriff Kontingenzformel eine Reihe althergebrachter
Kategorien, mit denen Gerechtigkeit bisher oft definiert wurde:
Wert, Prinzip, Idee, Tugend. Der Begriff ersetzt diese Kategorien
jedoch nicht vollständig. Stattdessen müssen zwei Perspektiven
unterschieden werden. Aus der internen Perspektive des
Rechtssystems ist Gerechtigkeit zweifellos die oberste Norm: Alle
Entscheidungen sollen Gerechtigkeit schaffen. Diese Norm stellt für
das System durchaus einen Wert dar, man kann sie als Prinzip
verteidigen oder für eine „Tugend“ halten. Aus der
Umweltperspektive eines externen Beobachters jedoch kann dieselbe
Rechtsentscheidung, die im System Gerechtigkeit verkörpert,
ungerecht erscheinen. Aus dieser Beobachterperspektive ist
Gerechtigkeit eine Kontingenzformel. Gerechtigkeit wird erwartet,
aber Enttäuschung ist nicht ausgeschlossen. Die Begriffswahl soll
zudem klarstellen, dass es eine Bezeichnung braucht, die alles
abstreift, was durch die einstige Vorstellung eines Naturrechts
auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit begrifflich mitgeprägt
hatte. Da es keine Beziehung zwischen Natur und Recht gibt, gibt es
auch keine zwischen Natur und Gerechtigkeit. Wertbegriffe würden
zudem Vorstellungen anderer Systeme ins System importieren. Das ist
für ein operativ geschlossenes System ausgeschlossen. Besonders gut
sieht man das am Wertbegriff der Tugend, der z.B. Keuschheit und
Demut umfasst. Derlei Kategorien spielen bei der
Entscheidungsfindung im Recht keine Rolle. „Prinzip“ verweist auf
Kants Kategorischen Imperativ und die Ethik. Und „Ideen“ sind seit
Platon Erscheinungen, die sich von sich aus offenbaren. Mit all dem
lässt sich jedoch weder Recht von Unrecht unterscheiden noch
Gerechtigkeit definieren. Stattdessen spezifiziert sich die Formel
selbst. Die Unterscheidung Recht/Unrecht produziert eine
Rechtsentscheidung, die einer weiteren Unterscheidung unterzogen
werden kann: Ist die Entscheidung gerecht oder ungerecht? Die
Antwort soll positiv ausfallen. Dies ist jedoch weder exakt
bestimmbar noch abschließend definierbar. Es kommt auf die
Perspektive des externen Beobachters an. Die Funktion einer
Kontingenzformel liegt somit in der Differenz zwischen
Bestimmbarkeit/Unbestimmbarkeit. Die Grenze zwischen den Begriffen
soll gekreuzt werden. Dabei ist der Gegensatz
bestimmbar/unbestimmbar selbst paradox, denn wenn man etwas
bestimmt (durch Unterscheidung und Bezeichnung), bestimmt man das
damit Ausgeschlossene gleichzeitig mit. Man bestimmt also das
Unbestimmbare – eine Paradoxie. D.h. Kontingenzformeln stellen
gewählte Lösungen in Frage. Die Kommunikation kreist um Fragen,
welche anderen Möglichkeiten es gäbe. Innerhalb der Modalkategorien
Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit schließt Kontingenz die
Notwendigkeit (im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung) aus. Der
Bereich des Kontingenten beinhaltet das Spektrum dessen, was
rechtlich möglich ist und was man als Wirklichkeit ansehen muss.
Die Grenzen sind verschiebbar. Tugenden, Prinzipien, Ideen usw.
sind demnach Ausformungen der Kontingenz: Aus dem Spektrum der
Möglichkeiten verkörpern sie das, was wirklich geworden ist – durch
Selektion genau dieser Möglichkeiten und Ausschluss von anderen.
Auf diese Weise wird Gerechtigkeit kanonisiert und bleibt
wandelbar. Die Tugend kann abgewählt werden, Gerechtigkeit nicht.
Die Funktion, die Grenze zwischen bestimmbar/unbestimmbar zu
kreuzen, ist eine unausgesprochene, latente Funktion. Dass der
Begriff diese Funktion hat, wird nicht mitkommuniziert. Die
Paradoxie, dass Gerechtigkeit sowohl bestimmbar sein soll als auch
nicht endgültig bestimmbar ist, wird invisibilisiert.
verstehen ist. Kontingenz bedeutet zunächst ganz allgemein: Es kann
auch anders kommen. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert jedoch
nichts an der normativen Erwartung. In der Theorie sozialer Systeme
ersetzt der Begriff Kontingenzformel eine Reihe althergebrachter
Kategorien, mit denen Gerechtigkeit bisher oft definiert wurde:
Wert, Prinzip, Idee, Tugend. Der Begriff ersetzt diese Kategorien
jedoch nicht vollständig. Stattdessen müssen zwei Perspektiven
unterschieden werden. Aus der internen Perspektive des
Rechtssystems ist Gerechtigkeit zweifellos die oberste Norm: Alle
Entscheidungen sollen Gerechtigkeit schaffen. Diese Norm stellt für
das System durchaus einen Wert dar, man kann sie als Prinzip
verteidigen oder für eine „Tugend“ halten. Aus der
Umweltperspektive eines externen Beobachters jedoch kann dieselbe
Rechtsentscheidung, die im System Gerechtigkeit verkörpert,
ungerecht erscheinen. Aus dieser Beobachterperspektive ist
Gerechtigkeit eine Kontingenzformel. Gerechtigkeit wird erwartet,
aber Enttäuschung ist nicht ausgeschlossen. Die Begriffswahl soll
zudem klarstellen, dass es eine Bezeichnung braucht, die alles
abstreift, was durch die einstige Vorstellung eines Naturrechts
auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit begrifflich mitgeprägt
hatte. Da es keine Beziehung zwischen Natur und Recht gibt, gibt es
auch keine zwischen Natur und Gerechtigkeit. Wertbegriffe würden
zudem Vorstellungen anderer Systeme ins System importieren. Das ist
für ein operativ geschlossenes System ausgeschlossen. Besonders gut
sieht man das am Wertbegriff der Tugend, der z.B. Keuschheit und
Demut umfasst. Derlei Kategorien spielen bei der
Entscheidungsfindung im Recht keine Rolle. „Prinzip“ verweist auf
Kants Kategorischen Imperativ und die Ethik. Und „Ideen“ sind seit
Platon Erscheinungen, die sich von sich aus offenbaren. Mit all dem
lässt sich jedoch weder Recht von Unrecht unterscheiden noch
Gerechtigkeit definieren. Stattdessen spezifiziert sich die Formel
selbst. Die Unterscheidung Recht/Unrecht produziert eine
Rechtsentscheidung, die einer weiteren Unterscheidung unterzogen
werden kann: Ist die Entscheidung gerecht oder ungerecht? Die
Antwort soll positiv ausfallen. Dies ist jedoch weder exakt
bestimmbar noch abschließend definierbar. Es kommt auf die
Perspektive des externen Beobachters an. Die Funktion einer
Kontingenzformel liegt somit in der Differenz zwischen
Bestimmbarkeit/Unbestimmbarkeit. Die Grenze zwischen den Begriffen
soll gekreuzt werden. Dabei ist der Gegensatz
bestimmbar/unbestimmbar selbst paradox, denn wenn man etwas
bestimmt (durch Unterscheidung und Bezeichnung), bestimmt man das
damit Ausgeschlossene gleichzeitig mit. Man bestimmt also das
Unbestimmbare – eine Paradoxie. D.h. Kontingenzformeln stellen
gewählte Lösungen in Frage. Die Kommunikation kreist um Fragen,
welche anderen Möglichkeiten es gäbe. Innerhalb der Modalkategorien
Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit schließt Kontingenz die
Notwendigkeit (im Sinne einer Ursache-Wirkung-Beziehung) aus. Der
Bereich des Kontingenten beinhaltet das Spektrum dessen, was
rechtlich möglich ist und was man als Wirklichkeit ansehen muss.
Die Grenzen sind verschiebbar. Tugenden, Prinzipien, Ideen usw.
sind demnach Ausformungen der Kontingenz: Aus dem Spektrum der
Möglichkeiten verkörpern sie das, was wirklich geworden ist – durch
Selektion genau dieser Möglichkeiten und Ausschluss von anderen.
Auf diese Weise wird Gerechtigkeit kanonisiert und bleibt
wandelbar. Die Tugend kann abgewählt werden, Gerechtigkeit nicht.
Die Funktion, die Grenze zwischen bestimmbar/unbestimmbar zu
kreuzen, ist eine unausgesprochene, latente Funktion. Dass der
Begriff diese Funktion hat, wird nicht mitkommuniziert. Die
Paradoxie, dass Gerechtigkeit sowohl bestimmbar sein soll als auch
nicht endgültig bestimmbar ist, wird invisibilisiert.
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