Beschreibung
vor 3 Jahren
Lässt sich empirisch feststellen, auf welcher Grundlage das
„organisierte gerichtliche Entscheidungssystem“ des Rechts seine
Funktion für die Gesellschaft ausübt? Luhmann verweist auf einen
Doppeleffekt durch die doppelte Modalisierung des Rechts.
Einerseits entstand das System aus den normativen Erwartungen der
Gesellschaft heraus. Andererseits verliert ein System, das sich
operativ schließt, zwangsläufig den Konnex zur „Basis“. Ein Gericht
braucht keine Rückversicherung mehr, was der „Wille der
Gesellschaft“ ist. Es operiert nach internen Normen. Anders gesagt:
Einerseits koppelt die Gesellschaft ihre Erwartungen an ein
Funktionssystem. Andererseits kommt es genau dadurch zur
Entkoppelung: Das System berücksichtigt nur Erwartungen mit
rechtlicher Qualität – andere nicht. Ein Blick in die Geschichte.
Das Recht hat sich organisiert und professionalisiert. Im
Entscheidungssystem sind Gerichte die wichtigsten Institutionen.
Recht ist nur das, was ein Gericht im „offiziellen“ Sinne dafür
erklärt. Diese Selbstreduktion verhindert, dass willkürliche (z.B.
sittliche) Erwartungen zu Recht werden können. Evolutionär war die
Entwicklung unwahrscheinlich. Der Prozess verlief von einer
segmentären Gesellschaft (differenziert nach Familien, Stämmen) zur
Stratifikation (Adelsgesellschaften, die über Schrift verfügten;
Differenzierung nach Rang: Adel/Volk, höher-/tiefergestellt). Die
operative Schließung zum autonomen Funktionssystem setzte sich
dagegen durch, dass man auf Strukturen vertraute, in denen ein
Herrscher oder Clanführer über Recht und Unrecht entschied. Dass
die Systembildung glückte, dürfte darum auch einer zusätzlichen
Differenzierungsform zu verdanken sein, die bereits in der
segmentären Gesellschaft begann, sich in der stratifizierten
Gesellschaft beschleunigte und bis heute existiert: die
Differenzierung nach Stadt/Land bzw. Zentrum/Peripherie.
Zurückzuführen ist sie mutmaßlich auf internationalen Handel, vor
allem mit Luxusgütern. Die Ungleichheit stieg, was den Bedarf nach
professioneller Gerichtsbarkeit gesteigert haben dürfte. Außerdem
„regiert“ der Adel nicht. Er war nicht in der Lage, die
Ordnungsleistungen der Familien- oder Stammesoberhäupter zu
erbringen. Dies begünstigte die Ausdifferenzierung eines
politischen Systems („Staatenbildung“) ebenso wie des
Rechtssystems. Die Entkopplung des Rechts von sozialen Erwartungen
zeigt sich auch darin, dass das Recht die Bedingungen dafür in der
Gesellschaft nicht „vorschreiben“ kann. Ebenso wenig kann es
garantieren oder repräsentieren, wie die Umwelt zu erwarten hat.
Juristisch kommt es darauf auch nicht an. Gerichte bauen ihre
Eigenkomplexität ohne Rücksicht auf jene Doppelmodalisierung auf,
der das System seine Entstehung verdankt. Gerichte operieren also
auf der Grundlage normativer Erwartungen. Alle damit verknüpften
Erwartungen, die nicht rechtsrelevant sind, bleiben unerfüllt.
Begriffe wie „Rechtsbewusstsein“ bringen nur vage zum Ausdruck,
dass Rechtssystem und Gesellschaft gleichermaßen davon ausgehen,
dass es diese Erwartungen gibt. Empirisch lassen sie sich aber gar
nicht feststellen. Die Gesellschaft „bezahlt“ die Autonomie ihres
Systems damit, dass soziale Kontexte ohne Rechtsqualität nicht zur
Sprache kommen. Unbefriedigte Erwartungen äußern sich darum als
politische Forderungen. Protest beruft sich typisch auf Werte,
Moral, Ethik. Für das Gerichtssystem sind das nur Irritationen
durch die Umwelt. Es entscheidet zwangsläufig daran vorbei. Anm.:
Zum Thema segmentäre Gesellschaft, Stratifikation und
Zentrum/Peripherie beruft sich der Text auch auf Luhmann, „Die
Gesellschaft der Gesellschaft“, Bd. 2., „Formen der
Systemdifferenzierung“, S. 609-682.
„organisierte gerichtliche Entscheidungssystem“ des Rechts seine
Funktion für die Gesellschaft ausübt? Luhmann verweist auf einen
Doppeleffekt durch die doppelte Modalisierung des Rechts.
Einerseits entstand das System aus den normativen Erwartungen der
Gesellschaft heraus. Andererseits verliert ein System, das sich
operativ schließt, zwangsläufig den Konnex zur „Basis“. Ein Gericht
braucht keine Rückversicherung mehr, was der „Wille der
Gesellschaft“ ist. Es operiert nach internen Normen. Anders gesagt:
Einerseits koppelt die Gesellschaft ihre Erwartungen an ein
Funktionssystem. Andererseits kommt es genau dadurch zur
Entkoppelung: Das System berücksichtigt nur Erwartungen mit
rechtlicher Qualität – andere nicht. Ein Blick in die Geschichte.
Das Recht hat sich organisiert und professionalisiert. Im
Entscheidungssystem sind Gerichte die wichtigsten Institutionen.
Recht ist nur das, was ein Gericht im „offiziellen“ Sinne dafür
erklärt. Diese Selbstreduktion verhindert, dass willkürliche (z.B.
sittliche) Erwartungen zu Recht werden können. Evolutionär war die
Entwicklung unwahrscheinlich. Der Prozess verlief von einer
segmentären Gesellschaft (differenziert nach Familien, Stämmen) zur
Stratifikation (Adelsgesellschaften, die über Schrift verfügten;
Differenzierung nach Rang: Adel/Volk, höher-/tiefergestellt). Die
operative Schließung zum autonomen Funktionssystem setzte sich
dagegen durch, dass man auf Strukturen vertraute, in denen ein
Herrscher oder Clanführer über Recht und Unrecht entschied. Dass
die Systembildung glückte, dürfte darum auch einer zusätzlichen
Differenzierungsform zu verdanken sein, die bereits in der
segmentären Gesellschaft begann, sich in der stratifizierten
Gesellschaft beschleunigte und bis heute existiert: die
Differenzierung nach Stadt/Land bzw. Zentrum/Peripherie.
Zurückzuführen ist sie mutmaßlich auf internationalen Handel, vor
allem mit Luxusgütern. Die Ungleichheit stieg, was den Bedarf nach
professioneller Gerichtsbarkeit gesteigert haben dürfte. Außerdem
„regiert“ der Adel nicht. Er war nicht in der Lage, die
Ordnungsleistungen der Familien- oder Stammesoberhäupter zu
erbringen. Dies begünstigte die Ausdifferenzierung eines
politischen Systems („Staatenbildung“) ebenso wie des
Rechtssystems. Die Entkopplung des Rechts von sozialen Erwartungen
zeigt sich auch darin, dass das Recht die Bedingungen dafür in der
Gesellschaft nicht „vorschreiben“ kann. Ebenso wenig kann es
garantieren oder repräsentieren, wie die Umwelt zu erwarten hat.
Juristisch kommt es darauf auch nicht an. Gerichte bauen ihre
Eigenkomplexität ohne Rücksicht auf jene Doppelmodalisierung auf,
der das System seine Entstehung verdankt. Gerichte operieren also
auf der Grundlage normativer Erwartungen. Alle damit verknüpften
Erwartungen, die nicht rechtsrelevant sind, bleiben unerfüllt.
Begriffe wie „Rechtsbewusstsein“ bringen nur vage zum Ausdruck,
dass Rechtssystem und Gesellschaft gleichermaßen davon ausgehen,
dass es diese Erwartungen gibt. Empirisch lassen sie sich aber gar
nicht feststellen. Die Gesellschaft „bezahlt“ die Autonomie ihres
Systems damit, dass soziale Kontexte ohne Rechtsqualität nicht zur
Sprache kommen. Unbefriedigte Erwartungen äußern sich darum als
politische Forderungen. Protest beruft sich typisch auf Werte,
Moral, Ethik. Für das Gerichtssystem sind das nur Irritationen
durch die Umwelt. Es entscheidet zwangsläufig daran vorbei. Anm.:
Zum Thema segmentäre Gesellschaft, Stratifikation und
Zentrum/Peripherie beruft sich der Text auch auf Luhmann, „Die
Gesellschaft der Gesellschaft“, Bd. 2., „Formen der
Systemdifferenzierung“, S. 609-682.
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