Oktoberfest-Triage-Evaluationsstudie 1998 (OTES ’98)
Beschreibung
vor 23 Jahren
Bei einem Massenanfall Verletzter und Erkrankter (MANV) übersteigt
das Patientenaufkommen initial die Behandlungskapazitäten, so daß
in dieser Phase noch keine individualmedizinische
Patientenversorgung möglich ist [Rebentisch 1986; Hansak 1998;
Sefrin 1998; Veronesi and Kompare 1998]. Um einen gezielten
Überblick über das Patientenaufkommen zu erhalten, besondere
Verletzungen oder Erkrankungen zu registrieren und die zur
Verfügung stehenden Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, muß
in dieser Situation eine Patientensichtung (Triage) durchgeführt
werden. Im Rahmen dieser Sichtung soll vor Ort in möglichst kurzer
Zeit eine Einstufung sämtlicher Patienten nach zunehmender
Verletzungsschwere erfolgen und auf deren Basis über die Art und
Reihenfolge der medizinischen Behandlung entschieden werden. Ziel
der vorliegenden, prospektiven Studie war es, bestehende
Richtlinien der Patientensichtung unter Realbedingungen zu
evaluieren, um deren Prozeßqualität im Weiteren verbessern zu
können. Außerdem wurde die Aussagekraft und Praktikabilität
gängiger Triagekriterien sowie notfall- bzw.
katastrophenmedizinischer Einschätzungskategorien und Score-Systeme
untersucht. Während des Zeitraums vom 19.September bis 04.Oktober
1998 wurden insgesamt 1.976 Patienten gesichtet und das
Sichtungsergebnis auf speziell entworfenen
Dokumentationsprotokollen festgehalten. Als Studienort wurde die
Notfall- und Sanitätsstation während des Oktoberfestes in München
gewählt, wo nahezu regelhaft ein großer Anfall von Notfallpatienten
innerhalb kurzer Zeit besteht. Aufgrund der gut ausgebauten
Versorgungsstruktur ist dort in der Regel eine Individualversorgung
der Patienten sichergestellt, so daß durch zusätzliches Personal
diese Beobachtungsstudie realisiert werden konnte. Aus dem
gesichteten Gesamtkollektiv von 1.976 Patienten rekrutierten sich
insgesamt 220 Patienten, deren weiterer medizinischer Verlauf bis
zur Entlassung von der Notfall- und Sanitätsstation bzw. aus der
Klinik, in die sie zur weiteren Versorgung transportiert wurden, im
Detail nachverfolgt wurde. Die auf den verschiedenen Protokollen
dokumentierten Aussagen der triagierenden Notärzte wurden mit den
entsprechenden Daten der im Anschluß erfolgten regulären
Patientenversorgung verglichen. Die Auswertung sämtlicher auf diese
Weise zusammengetragenen Daten lieferte neben zahlreichen
Einzelergebnissen folgende Hauptaussagen: Im Rahmen der Triage
unter katastrophenmedizinischen Bedingungen besteht im untersuchten
Patientenkollektiv die Tendenz, Patienten als zu kritisch verletzt
bzw. erkrankt einzustufen. Dies galt sowohl für die Einteilung nach
den Sichtungskategorien (21% bei Kategorie I und 36% bei Kategorie
II), als auch nach dem NACA-Score (46% bei NACA-3 und 47% bei
NACA-4). Eine zu harmlose Einschätzung wurde hingegen nur in
weniger als 3% der Fälle vorgenommen (0,7% bei Kategorie III, 1,0%
bei den NACA-Stufen 1 und 2 sowie 2,3% der NACA-Stufe 3). Unter
dieser Strategie werden potentiell kaum kritisch Kranke und
Verletzte „übersehen“, jedoch würde dies im Realfall zu einer
unnötig hohen Bindung von Personal und Material führen.
Empfehlenswert für die Praxis ist, nicht zuletzt deshalb, eine
zeitnahe Nachtriagierung und Neueinstufung der gesichteten
Patienten durchzuführen. Der benötigte Zeitaufwand für die
Triageuntersuchung betrug im Median 30 Sekunden und lag damit
deutlich unter den in der Literatur empfohlenen Richtwerten.
Weitere 31 Sekunden mußten im Median jedoch noch für die
anschließende Triagedokumentation aufgewandt werden. Um angesichts
des im MANV herrschenden Zeitdrucks eine möglichst zeiteffektive
Sichtung durchführen zu können, sollten dem triagierenden Arzt
ausreichend Dokumentationskräfte zur Verfügung stehen. Außerdem
sollte ein ausgereiftes und standardisiertes Dokumentationssystem
für den MANV flächendeckend etabliert werden, was gegenwärtig in
Deutschland so nicht etabliert ist. Um Verbesserungen der
Prozeßqualität der Triage von Notfallpatienten beim MANV zu
ermöglichen, wurde auch die Prognoserichtigkeit bezüglich der
Anzahl und Art notwendiger Krankenhaustransporte bestimmt. Der
entsprechende Vergleich der Triageprognosen der Studienärzte zu
Transportindikation und gegebenenfalls Transportmittelart ergab
eine Prognoserichtigkeit von lediglich 67 % hinsichtlich der
Transportindikation sowie von lediglich 59 % hinsichtlich der
Transportmittelart. Versorgungsmodalitäten wie Transportfragen
sollten daher nicht schon im Rahmen der initialen Triage, sondern
erst später nach einer genaueren Abklärung des Patientenzustandes
entschieden werden. Dies setzt jedoch auch voraus, daß zeitnahe
Nachtriagierungen und gegebenenfalls Neueinstufungen aller
gesichteten Patienten durchgeführt werden. Die Transportpriorität
sollte dabei unabhängig von der Dringlichkeit und dem Ausmaß
notfallmedizinischer Therapie festgelegt werden. Die Überprüfung
der Aussagekraft und Praktikabilität der beiden notfall- bzw.
katastrophenmedizinischen Bewertungssysteme NACA-Score und
Sichtungskategorien aus der Katastrophenmedizin unter den
Bedingungen eines MANV zeigte für beide Systeme deutliche Mängel
auf. Beide, auf subjektiven Kriterien beruhenden
Einschätzungssysteme sind nur eingeschränkt auf die spezielle
Situation des Massenanfalls Verletzter und Erkrankter übertragbar.
Nach den Ergebnissen dieser Studie wäre die Entwicklung eines auf
den Erkenntnissen notfallmedizinischer Patientenversorgung beim
Großschadensfall basierenden, zeiteffektiven und einheitlichen
Bewertungs- und Dokumentationssystemes für den MANV dringend
indiziert.
das Patientenaufkommen initial die Behandlungskapazitäten, so daß
in dieser Phase noch keine individualmedizinische
Patientenversorgung möglich ist [Rebentisch 1986; Hansak 1998;
Sefrin 1998; Veronesi and Kompare 1998]. Um einen gezielten
Überblick über das Patientenaufkommen zu erhalten, besondere
Verletzungen oder Erkrankungen zu registrieren und die zur
Verfügung stehenden Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, muß
in dieser Situation eine Patientensichtung (Triage) durchgeführt
werden. Im Rahmen dieser Sichtung soll vor Ort in möglichst kurzer
Zeit eine Einstufung sämtlicher Patienten nach zunehmender
Verletzungsschwere erfolgen und auf deren Basis über die Art und
Reihenfolge der medizinischen Behandlung entschieden werden. Ziel
der vorliegenden, prospektiven Studie war es, bestehende
Richtlinien der Patientensichtung unter Realbedingungen zu
evaluieren, um deren Prozeßqualität im Weiteren verbessern zu
können. Außerdem wurde die Aussagekraft und Praktikabilität
gängiger Triagekriterien sowie notfall- bzw.
katastrophenmedizinischer Einschätzungskategorien und Score-Systeme
untersucht. Während des Zeitraums vom 19.September bis 04.Oktober
1998 wurden insgesamt 1.976 Patienten gesichtet und das
Sichtungsergebnis auf speziell entworfenen
Dokumentationsprotokollen festgehalten. Als Studienort wurde die
Notfall- und Sanitätsstation während des Oktoberfestes in München
gewählt, wo nahezu regelhaft ein großer Anfall von Notfallpatienten
innerhalb kurzer Zeit besteht. Aufgrund der gut ausgebauten
Versorgungsstruktur ist dort in der Regel eine Individualversorgung
der Patienten sichergestellt, so daß durch zusätzliches Personal
diese Beobachtungsstudie realisiert werden konnte. Aus dem
gesichteten Gesamtkollektiv von 1.976 Patienten rekrutierten sich
insgesamt 220 Patienten, deren weiterer medizinischer Verlauf bis
zur Entlassung von der Notfall- und Sanitätsstation bzw. aus der
Klinik, in die sie zur weiteren Versorgung transportiert wurden, im
Detail nachverfolgt wurde. Die auf den verschiedenen Protokollen
dokumentierten Aussagen der triagierenden Notärzte wurden mit den
entsprechenden Daten der im Anschluß erfolgten regulären
Patientenversorgung verglichen. Die Auswertung sämtlicher auf diese
Weise zusammengetragenen Daten lieferte neben zahlreichen
Einzelergebnissen folgende Hauptaussagen: Im Rahmen der Triage
unter katastrophenmedizinischen Bedingungen besteht im untersuchten
Patientenkollektiv die Tendenz, Patienten als zu kritisch verletzt
bzw. erkrankt einzustufen. Dies galt sowohl für die Einteilung nach
den Sichtungskategorien (21% bei Kategorie I und 36% bei Kategorie
II), als auch nach dem NACA-Score (46% bei NACA-3 und 47% bei
NACA-4). Eine zu harmlose Einschätzung wurde hingegen nur in
weniger als 3% der Fälle vorgenommen (0,7% bei Kategorie III, 1,0%
bei den NACA-Stufen 1 und 2 sowie 2,3% der NACA-Stufe 3). Unter
dieser Strategie werden potentiell kaum kritisch Kranke und
Verletzte „übersehen“, jedoch würde dies im Realfall zu einer
unnötig hohen Bindung von Personal und Material führen.
Empfehlenswert für die Praxis ist, nicht zuletzt deshalb, eine
zeitnahe Nachtriagierung und Neueinstufung der gesichteten
Patienten durchzuführen. Der benötigte Zeitaufwand für die
Triageuntersuchung betrug im Median 30 Sekunden und lag damit
deutlich unter den in der Literatur empfohlenen Richtwerten.
Weitere 31 Sekunden mußten im Median jedoch noch für die
anschließende Triagedokumentation aufgewandt werden. Um angesichts
des im MANV herrschenden Zeitdrucks eine möglichst zeiteffektive
Sichtung durchführen zu können, sollten dem triagierenden Arzt
ausreichend Dokumentationskräfte zur Verfügung stehen. Außerdem
sollte ein ausgereiftes und standardisiertes Dokumentationssystem
für den MANV flächendeckend etabliert werden, was gegenwärtig in
Deutschland so nicht etabliert ist. Um Verbesserungen der
Prozeßqualität der Triage von Notfallpatienten beim MANV zu
ermöglichen, wurde auch die Prognoserichtigkeit bezüglich der
Anzahl und Art notwendiger Krankenhaustransporte bestimmt. Der
entsprechende Vergleich der Triageprognosen der Studienärzte zu
Transportindikation und gegebenenfalls Transportmittelart ergab
eine Prognoserichtigkeit von lediglich 67 % hinsichtlich der
Transportindikation sowie von lediglich 59 % hinsichtlich der
Transportmittelart. Versorgungsmodalitäten wie Transportfragen
sollten daher nicht schon im Rahmen der initialen Triage, sondern
erst später nach einer genaueren Abklärung des Patientenzustandes
entschieden werden. Dies setzt jedoch auch voraus, daß zeitnahe
Nachtriagierungen und gegebenenfalls Neueinstufungen aller
gesichteten Patienten durchgeführt werden. Die Transportpriorität
sollte dabei unabhängig von der Dringlichkeit und dem Ausmaß
notfallmedizinischer Therapie festgelegt werden. Die Überprüfung
der Aussagekraft und Praktikabilität der beiden notfall- bzw.
katastrophenmedizinischen Bewertungssysteme NACA-Score und
Sichtungskategorien aus der Katastrophenmedizin unter den
Bedingungen eines MANV zeigte für beide Systeme deutliche Mängel
auf. Beide, auf subjektiven Kriterien beruhenden
Einschätzungssysteme sind nur eingeschränkt auf die spezielle
Situation des Massenanfalls Verletzter und Erkrankter übertragbar.
Nach den Ergebnissen dieser Studie wäre die Entwicklung eines auf
den Erkenntnissen notfallmedizinischer Patientenversorgung beim
Großschadensfall basierenden, zeiteffektiven und einheitlichen
Bewertungs- und Dokumentationssystemes für den MANV dringend
indiziert.
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