"Pierre D., eine Wolke in Hosen": Die Unschärfe der Person

"Pierre D., eine Wolke in Hosen": Die Unschärfe der Person

49 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

An einem milden Frühsommerabend machen sich Dr. B und seine
Kolleginnen Lisa und Caro auf den Weg. Sie suchen sich ein
idyllisches Kiesbänkchen an der Wertach, um umgeben von einem
alten Autoreifen und geleerten Wodkaflaschen über Sophie Calles
Adressbuch zu sprechen.


Die Erzählerin findet das Adressbuch eines gewissen Pierre D. und
startet ein Experiment. Sie trifft sich mit Freunden und Familie,
um, Erkenntnisse über Pierre D. zu erlangen. Nach und nach lassen
diese Erkenntnisse ein Bild vor dem inneren Auge entstehen.
Dennoch bleibt dieses Bild, trotz verschiedener, interessanter
Facetten gleichzeitig leer.  Sophie Calle hat diese
Begegnungen mit den Menschen aus Pierres Adressbuch dokumentiert.
1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie
in der französischen Tageszeitung Libération. Damals lösten sie
einen Skandal aus. Heute wahrscheinlich auch, nur unter dem neuen
Begriff “stalking”.


Heute finden wir im Café vermutlich kein verlorenes Adressbuch
mehr. Vielleicht ein Smartphone. Dank Instagram, Google, Facebook
und Co ist es ein leichtes, verschiedene Aspekte einer Person
herauszufinden. Man gibt wenige Schlagwörter in eine Suchmaschine
ein oder ruft das Profil desjenigen auf. Aber gelingt ein
Kennenlernen so besser?


Werte Zuhörer, haben Sie schon einmal eine Person digital
erkundet, vielleicht sogar gestalked? Auf Datingplattformen à la
Tinder stellen sich Menschen mithilfe weniger Bilder, Sentenzen
oder Pseudo-Wisdoms vor. Die einen zeigen ihr pornösestes
Duckface, ihre Thighgap oder den Monsterbizeps, die anderen
lichten sich beim Eiswasserfallklettern, mit der anspruchsvollen
Lektüre oder beim Kröten-über-die-Straße-Tragen ab. Auf jeden
Fall skizziert man ein Bild seines eigenen Lebens, wie man sich
gerne sehen würde. Am besten authentisch, selbstbewusst und „mit
beiden Beinen im Leben stehend“.


Ist es möglich, oder besser: will man ein „authentisches“,
bruchloses Bild abgeben? Heute, im Zeitalter der sogenannten
Achtsamkeit, wird oft postuliert, dass es wichtig sei,
authentisch, man selbst, mit sich im Reinen oder angekommen zu
sein. Für mich sind das inhaltsleere Begriffe. Was soll das
bedeuten, authentisch, also echt zu sein? Ist das überhaupt
relevant oder erstrebenswert? Ist nicht alles, auch das
Sich-Verstellen, ein authentischer Teil meiner selbst? Ist nicht
das Gesellschaftlich-Aufgezwungene, von dem ich mich vermeintlich
befreien muss, für mich genauso echt wie das angeblich
Unverstellte? Was ist echt? Ist „wissen was man will“ echt oder
darf man als Mensch widersprüchlich sein?


Die Gleichung, je mehr eine Person über ihr Leben teilt desto
besser lernt man sie kennen, geht nicht auf. Ist es nicht
reizvoller, jemanden zu treffen, der nicht schon vermeintlich
jeden Aspekt seines Lebens ablichtet? Denn je weniger man
(hoffentlich nur im übertragenen Sinne) blankzieht, desto mehr
gibt es zu entdecken.


Sehr verehrte Zuhörer, achten Sie stets darauf, dass Ihrem so
konzipierten Bild noch zahlreiche Puzzleteile fehlen, die
jederzeit eingefügt oder ausgetauscht werden können.

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