Rilke: Brief an die Mutter. 1916. Aus München.

Rilke: Brief an die Mutter. 1916. Aus München.

5 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Als ich Dir vor einem Jahr, von Wien aus, meinen Weihnachtsbrief
sandte, da dachte ich unwillkürlich, die nächsten Weihnachten
würde, müßte die Welt wieder im Heilen sein. Sie ist es nicht,
und wenn das Bewußtsein ihres unaufhörlichen Wund- und
Geschlagenseins über jedem Tag liegt, über jeder Nacht, wie sehr
erst erfüllt und erschwert es das Erlebnis gerade dieses, des
Heiligen Abends, des Abends, an dem zu Erden das Heil geboren
wurde, das mißkannte, mißhandelte, geopferte Heil der Welt.
Voriges Jahr gab es keinen in der Victorgasse, und ich weiß
nicht, ob ich heuer den Glanz eines Christbaumes ertrüge, ja ob
nicht das mindeste Geschenk zum Gewicht würde in meiner Hand. Es
ist so viel Schwere in der Luft, daß sie in jeden Gegenstand
schlägt, den man zu fassen und zu halten genötigt ist –, und das
Scheinen und Flackern jedes Lichts, weit entfernt ein Schimmer zu
sein, nimmt die Bedeutung der namenlosen Unsicherheit an, in der
wir leben. Wer hat das Herz, eine Feier aus sich aufzubringen,
wer wird die Kraft haben zum Weihnachtslied anzusetzen? Wer wird
knieen dürfen und nichts als feierlich sein? Neben dem Feiern ist
in jedem das stumpfe Trauern, und die Stimme, die das
Weihnachtslied zu heben hat, hat an der Klage vorbeizugehen. Und
das Knieen, das Erhebung bedeutet, ist dasselbe Knieen, das
Unterwerfung ausdrückt unter den Druck eines den ganzen Raum
ausfüllenden Schicksals. Und doch, liebe Mama, indem uns noch
einmal zugemutet wird, in so schwer verhängter Welt das heilige
Fest hinzunehmen, wird die Probe an uns gerichtet ob wir über uns
hinaus zu feiern verstehen. Denn nicht uns feiern wir in diesem
heilhaft geborenen Kind, sondern die Kräfte des höheren Geistes.
Auch nicht seine Wendung zu uns, denn wir haben sie verschmäht
und verleugnet und haben ihn nicht zur Einkehr zugelassen. Den
Geist selbst, seine lautere Verwandlung in ein sichtbares Kind,
seine Einsamkeit und Unschuld, sein Bei-uns-in-Gefahrsein beten
wir an und begehen es im erhobenen Gemüt. Wir haben nichts gemein
mit diesem göttlichen Kinde, als daß wirs grade noch wahrnehmen,
wie die Könige und die erstaunten Hirten den Stern wahrnehmen,
der über seiner Ankunft in den Himmeln ging. Dieses Kind in
seiner unübertrefflichen Armut ist für uns die äußerste Stelle
der Welt, das Ende unseres Augenlichts, das Fernste unseres
Herzens: darum ist es so klein, ist ein Kind aus Entfernung, und
wächst uns nicht auf als am Kreuze, das mitten in unserem Herzen
steht. Und doch vielleicht befestigt der Zwang ein solches Fest
in solcher Zeit zu feiern (das Fest der Unschuld mitten in einer
Welt verstricktester Verschuldung) vielleicht bestärkt diese Not
in uns den Entschluß, nie das Unsere zu preisen, sondern an den
Weiten unseres Wesens uns zu heiligen. Und so sehr ich mich
unfähig fühle, Weihnachten in meiner Stube anzurichten, saß ich
in der Mitternachtsmette oben an der Orgel, ich stimmte
gleichwohl den stärksten Psalm an und priese die unerschöpfliche
Weihnacht.


(C) 2021 Benjamin Lucas.

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