Rilke: Brief an die Mutter. 1922. Aus Muzot.

Rilke: Brief an die Mutter. 1922. Aus Muzot.

2 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Es ist heute der Abend vom Wunder zu reden, angesichts des
Wunders der heiligen Krippe ! – So laß uns, liebe Mama,
auch heute, wie seit Jahrzehnten, wie in meiner kleinsten
Kindheit, staunend und freudig vor diesem heiligen Geheimnis
vereinigt sein: wie sehr der gute Papa das Geschenkzimmer
vorzubereiten wußte, so daß das Kinderherz hoch aufschlug beim
Aufspringen der Flügeltür und meinte, wie von einer Welle der
Erfüllung überwältigt zu sein. Aber wie viel gewaltiger noch, je
mehr dieses eine kindliche Herz wächst und zunimmt, wie ungeheuer
überlegen auch noch in ihm, dem erwachsensten Herzen, bleibt
diese verschwenderische jede seiner Erwartungen überfüllende
Welle, wenn sie nun nichtmehr aus dem heimlich ausgestatteten,
plötzlich eröffneten Zimmer, nicht mehr vom übervollen
Gabentisch, sondern von der kleinsten unscheinbarsten Stelle
herüberschlägt, an der wir das Weihnachtslicht anzünden. Die
Erscheinung des lieblichen Wunders durfte kleiner, geringer
werden, weil wir dahingekommen sind, über dem mindesten Zeichen
seiner Gegenwart, den ganzen Glanz in uns, in unserem festlichen,
geordneten Gemüt wahrzunehmen. Die Bescherung hat draußen nur ein
Tischchen für sich, aber die lange Tafel der Erfüllungen steht
nun in unserem Herzen, umgeben von einem Glanz, der auch noch die
Erinnerung an den schönsten Christbaum der Kindheit übertrifft.


Rainer Maria Rilke.


(C) 2021 Benjamin Lucas

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