Rilke: An die Mutter. Vor Weihnachten 1923. Aus Muzot.

Rilke: An die Mutter. Vor Weihnachten 1923. Aus Muzot.

5 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Meine liebe gute Mama,


unsere herzliche Sechs-Uhr-Tradition hat lauter frohe und treue
Eigenschaften: aber ist es nicht eine der schönsten, die sie uns
zugutekommen läßt, daß wir uns nicht allein, jedes Jahr, die alte
Weihnachtsfreude schenken, gegenseitig, sondern, daß dieser
zwischen uns vertrauliche Gebrauch auch noch die
Weihnachts-Vor-Freude aufleben und dauern läßt, die vor der
geschlossenen Tür verhaltene, die immer von so starker
herzklopfender Bedeutung war! Denn indem jeder von uns, infolge
der Entfernung, die unsere Briefe zu überwinden haben, genötigt
wird, indem er schreibt, sich einige Tage vor dem Fest schon
seine ganze heimliche Gegenwart vorzustellen, ja aus ihr heraus,
das zu fühlen, was den Anderen: Dir! - die Sechsuhrstunde betonen
und erfüllen soll, ist er unversehens in der großen reichen
Vor-Freude drin und spricht mitten aus ihr. Von nirgends her ist
ja die Freude erkennbar und ergreifbar als von der Vor-Freude
aus. Also, meine liebe Mama, da bin ich, in ihr, in dieser
wohlbekannten Vorfreude, die Freude sein wird, wenn Du dieses
liest und mich, im Innern dieser Zeilen, in Deine Arme
schließest. Aber laß mich noch eine Weile bei der Vorfreude
bleiben. Die habt Ihr mich ja, Du und Papa, in einer
unvergleichlichen Weise, gelehrt, mittels der Vorbereitungen und
Überraschungen, die bei uns zu diesem Fest gehörten. Was schlug
mir das Herz, vom Geburtstag an, über den St. Nikolaus-Tag auf
Weihnachten zu, und wie steigerte sich diese seine Erregtheit
immer noch mehr, am 21ten, am 22ten, am 23ten, bis am seltsam
ausgesparten Nachmittag des 24ten, in seinem nicht mehr zu
steigernden Sturm jene Wind-Stille eintrat, die im Menschlichen
mit dem Zuviel beginnt, und in deren reine Atemlosigkeit dann die
Glocken, die Glockenspiele eindrangen, die dem Aufspringen der
Türen zuvorflogen durch die Dämmerung des unvergleichlichen
Wintertags. Vielleicht bin ich deshalb, meine liebe Mama, ein
solcher Rühmer der Freude geworden (sie dem Glück, auch noch dem,
was die Menschen ein großes Glück nennen, unbedenklich
vorziehend), weil Ihr mich zu so großer Vorfreude erzogen habt
und an diesem einen Tag, in dem so viel Erfüllung geheimnisvoll
zusammenkam, meinem Herzen zumutetet, in der Leistung der
Vorfreude, ein Maß der Freude anzunehmen, das völlig
unaussprechlich war. Die Freude selbst war es dann ja auch:
unaussprechlich. Vielleicht schlug in sie etwas Verwirrung
hinein, etwas Taumel fiel über sie her, etwas selige Müdigkeit
beschlug sie... so daß man in ihr nicht mehr so klar, nicht mehr
so rein leistend war, nicht mehr so unbeschränkt aktiv wie in dem
engelhaften Wehen der Vor-Freude. Dort ging man, man stieg -,
hier, in der Freude, war man über einen äußersten Rand gehalten
und meinte nicht anders zeitweise, als zu fallen, weich und tief
zu fallen. Denn, wer weiß, vielleicht ist das Leben so unendlich
diskret, daß die Freude schon Einbildung ist: vielleicht ist ja
das ganze Irdische, in seiner letzten Zusammenfassung, in der
auch noch der größeste Schmerz, als eine Einzelheit, untergeht,
nichts als eine einzige Vor-Freude - und die Freude, die uns hier
überträfe, wartet anderswo.

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