Rilke: Vor Weihnachten 1914

Rilke: Vor Weihnachten 1914

7 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Rainer Maria Rilke. Vor Weihnachten 1914


1


Da kommst du nun, du altes zahmes Fest,


und willst, an mein einstiges Herz gepreßt,


getröstet sein. Ich soll dir sagen: du


bist immer noch die Seligkeit von einst


und ich bin wieder dunkles Kind und tu


die stillen Augen auf, in die du scheinst.


Gewiß, gewiß. Doch damals, da ichs war,


und du mich schön erschrecktest, wenn die Türen


aufsprangen – und dein wunderbar


nicht länger zu verhaltendes Verführen


sich stürzte über mich wie die Gefahr


reißender Freuden: damals selbst, empfand


ich damals dich? Um jeden Gegenstand


nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine,


doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand


ein neues Ding, das bange, fast gemeine#


Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.


O wie doch alles, eh ich es berührte,


so rein und leicht in meinem Anschaun lag.


Und wenn es auch zum Eigentum verführte,


noch war es keins. Noch haftete ihm nicht


mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen


es solle etwas sein, was es nicht war.


Noch war es klar


und klärte mein Gesicht.


Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,


noch war es nicht das Ding, das widerspricht.


Da stand ich zögernd vor dem wundervollen


Un-Eigentum .....


2


(………Oh, daß ich nun vor dir


so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende


anschauender. Und heb ich je die Hände


so lege nichts hinein; denn ich verlier.


Doch laß durch mich wie durch die Luft den Flug


der Vögel gehen. Laß mich, wie aus Schatten


und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug


kühl fühlbar sein. Die Dinge, die wir hatten,


(oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie


erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder


der reine Raum. Die Schwere unsrer Glieder,


was an uns Abschied ist, kommt über sie.)


3


Auch dieses Fest laß los, mein Herz. Wo sind


Beweise, daß es dir gehört? Wie Wind


aufsteht und etwas biegt und etwas drängt,


so fängt in dir ein Fühlen an und geht


wohin? drängt was? biegt was? Und drüber


übersteht,


unfühlbar, Welt. Was willst du feiern, wenn


die Festlichkeit der Engel dir entweicht?


Was willst du fühlen? Ach, dein Fühlen reicht


vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden.


Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht


von zahllos Engeln. Dir unfühlbar. Du


kennst nur den Nicht-Schmerz. Die Sekunde Ruh


zwischen zwei Schmerzen. Kennst den kleinen Schlaf


im Lager der ermüdeten Geschicke.


Oh wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke


das Übermaß des Daseins übertraf.


Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir


zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier


bereite Dinge. Schönes Lächeln stand


in einem Antlitz. Wie erkannt


sah eine Blume zu dir auf. Da flog


ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.


Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft,


und war es Dufts genug, so bog ein Ton


sich dir ans Ohr … Schon


wähltest du und winktest: dieses nicht.


Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht.


Bang wie ein Sohn ging manches von dir fort


und sah sich lange um, und sieht von dort,


wo du nicht fühlst, noch immer her. O daß


du immer wieder wehren mußt: genug,


statt: mehr! zu rufen, statt Bezug


in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?


Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche?


Heißt Herz-sein nicht Bewältigung?


Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung


der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge.


Geht nicht durch mich der Sterne Schwung?


Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?


Was bin ich hier? Was war ich jung?





Gelesen von Benjamin Lucas.

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