tl;dr #22: Pierre Bourdieu: «Die feinen Unterschiede» mit Franz Schultheis
Alex Demirović im Gespräch mit dem Präsidenten der Pierre
Bourdieu-Gesellschaft Franz Schultheis
55 Minuten
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Bourdieu hat unser Verständnis von Klassenkämpfen enorm erweitert.
Er dehnt dieses Verständnis noch bis zu dem Bereich aus, der sehr
weit weg von ökonomischen oder politischen Prozessen zu liegen
scheint: dem Geschmack. «Über Geschmack lässt sich nicht streiten»,
heißt es. Geschmack in den individuellen körperlichen Reaktionen
wie die Verkörperung von Natur und Freiheit wirken. Der Geschmack
ist eine Klassenpraxis – die Wahl von Kinos, Kunst, Sport, Friseur,
Kleidung, Möbel oder Essen folgt Mustern. Bourdieu führt sie auf
einen klassenspezifischen Habitus zurück. Dieser wird in den
sozialisatorischen Prozessen der Familie und in der Schule
erworben. Die Familie vermittelt ein Verhältnis zu den Dingen: zu
Räumen, Mobiliar, Kunst, Tischmanieren. Die Schule bestärkt diese
Aneignungsformen der Kultur durch die Titel, die sie verleiht. Sie
bestätigt mit Bildungstiteln den Individuen, dass sie mit ihren
Praktiken über legitime oder eben nicht so legitime Kultur
verfügen. Diese Prozesse der Ausbildung des Habitus ist langwierige
Arbeit und erfordert Ressourcen – Bourdieu zufolge ökonomisches,
kulturelles, soziales Kapital. Darauf gestützt findet ein
allseitiger Kampf über das statt, was als legitim Kultur gilt:
welche Schulen, welche schulischen Titel, welcher Sport, welche
Berufspositionen als «hoch» oder «niedrig» gelten. Es ist ein
kontinuierlicher Kampf der Klassen um die Klassifikation. Der
Geschmack trägt dazu bei, dass die Individuen von sich aus,
bestimmt durch ihre körperlichen Neigungen, genau den Platz
einnehmen, der ihnen in der Klassenordnung zukommt: Das Bürgertum
erneuert seine Herrschaft durch den Geschmack der Distinktion, der
es von Kleinbürgertum abrückt, das immer danach strebt, bürgerlich
zu sein, aber nicht über eine ausreichende Menge an den
herrschenden Kapitalsorten verfügt, um jemals jenen hochkulturellen
Lebensstil zu erreichen. Das Bildungsstreben, so zeigt Bourdieu,
das seit den 1960er Jahren eingesetzt hat, betrügt mehrere
Generationen des Kleinbürgertums um den Erfolg des versprochenen
Aufstiegs. Der herrschenden Klasse ist es gelungen, die
Reproduktion ihrer Herrschaft durch die kulturellen Einrichtungen
hindurch zu sichern und das Kleinbürgertum auf Trab zu halten,
während die Arbeiter*innen sich in die Notwendigkeit der
alltäglichen Not fügen. Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser
Folge Franz Schultheis, Seniorprofessor für Soziologie des
Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität
in Friedrichshafen und Präsident der Pierre Bourdieu-Gesellschaft.
Er hat lange mit Pierre Bourdieu zusammengearbeitet und viele von
dessen Schriften auf Deutsch herausgegeben. Grafik: Porträt des
französischen Soziologen Pierre Bourdieu, @www.zersetzer.com
Er dehnt dieses Verständnis noch bis zu dem Bereich aus, der sehr
weit weg von ökonomischen oder politischen Prozessen zu liegen
scheint: dem Geschmack. «Über Geschmack lässt sich nicht streiten»,
heißt es. Geschmack in den individuellen körperlichen Reaktionen
wie die Verkörperung von Natur und Freiheit wirken. Der Geschmack
ist eine Klassenpraxis – die Wahl von Kinos, Kunst, Sport, Friseur,
Kleidung, Möbel oder Essen folgt Mustern. Bourdieu führt sie auf
einen klassenspezifischen Habitus zurück. Dieser wird in den
sozialisatorischen Prozessen der Familie und in der Schule
erworben. Die Familie vermittelt ein Verhältnis zu den Dingen: zu
Räumen, Mobiliar, Kunst, Tischmanieren. Die Schule bestärkt diese
Aneignungsformen der Kultur durch die Titel, die sie verleiht. Sie
bestätigt mit Bildungstiteln den Individuen, dass sie mit ihren
Praktiken über legitime oder eben nicht so legitime Kultur
verfügen. Diese Prozesse der Ausbildung des Habitus ist langwierige
Arbeit und erfordert Ressourcen – Bourdieu zufolge ökonomisches,
kulturelles, soziales Kapital. Darauf gestützt findet ein
allseitiger Kampf über das statt, was als legitim Kultur gilt:
welche Schulen, welche schulischen Titel, welcher Sport, welche
Berufspositionen als «hoch» oder «niedrig» gelten. Es ist ein
kontinuierlicher Kampf der Klassen um die Klassifikation. Der
Geschmack trägt dazu bei, dass die Individuen von sich aus,
bestimmt durch ihre körperlichen Neigungen, genau den Platz
einnehmen, der ihnen in der Klassenordnung zukommt: Das Bürgertum
erneuert seine Herrschaft durch den Geschmack der Distinktion, der
es von Kleinbürgertum abrückt, das immer danach strebt, bürgerlich
zu sein, aber nicht über eine ausreichende Menge an den
herrschenden Kapitalsorten verfügt, um jemals jenen hochkulturellen
Lebensstil zu erreichen. Das Bildungsstreben, so zeigt Bourdieu,
das seit den 1960er Jahren eingesetzt hat, betrügt mehrere
Generationen des Kleinbürgertums um den Erfolg des versprochenen
Aufstiegs. Der herrschenden Klasse ist es gelungen, die
Reproduktion ihrer Herrschaft durch die kulturellen Einrichtungen
hindurch zu sichern und das Kleinbürgertum auf Trab zu halten,
während die Arbeiter*innen sich in die Notwendigkeit der
alltäglichen Not fügen. Zu Gast bei Alex Demirović ist in dieser
Folge Franz Schultheis, Seniorprofessor für Soziologie des
Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität
in Friedrichshafen und Präsident der Pierre Bourdieu-Gesellschaft.
Er hat lange mit Pierre Bourdieu zusammengearbeitet und viele von
dessen Schriften auf Deutsch herausgegeben. Grafik: Porträt des
französischen Soziologen Pierre Bourdieu, @www.zersetzer.com
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