Episode 18: Stellvertretung

Episode 18: Stellvertretung

45 Minuten

Beschreibung

vor 11 Monaten
Katrin Trüstedt spricht mit Oliver Precht (beide ZfL) über ihr Buch
»Stellvertretung. Zur Szene der Person« (Konstanz University Press
2022). Entlang literarischer Beispiele beleuchten sie die Figur der
Stellvertretung, die unser gesellschaftliches und politisches Leben
prägt und in gegenwärtigen Debatten um die Rechte der Natur neue
Aktualität gewinnt. ———————— Was heißt es, für andere zu sprechen
und zu handeln – und was geschieht mit einem selbst, wenn andere
für einen sprechen und handeln? Die Ambivalenz stellvertretenden
Sprechens besteht darin, dass es bestimmten Stimmen und Geschichten
oft überhaupt erst Gehör verschafft, aber auch die Gefahr der
Bevormundung in sich birgt. Juristische und philosophische
Betrachtungen neigen dazu, über diesen Widerspruch hinwegzusehen
oder ihn einseitig aufzulösen. In der Literatur hingegen werden
nicht nur die Paradoxien der politischen und rechtlichen
Stellvertretung ausgelotet. Selbst auf Formen stellvertretender
Rede angewiesen, reflektiert sie stets auch die eigenen
Möglichkeiten, Figuren zum Sprechen zu bringen. Paradigmatisches
Beispiel dafür ist die »Orestie«, die Katrin Trüstedt als Urszene
von Recht, Literatur und Theater und mithin der Stellvertretung
selbst identifiziert. Die Ablösung der Gerechtigkeit der Rache
durch die Gerechtigkeit des Rechts in Aischylos’ Tragödie wird oft
als ein Ereignis der Emanzipation erzählt, bei dem sich der Mensch
vor Gericht und auf dem Theater den anderen Menschen offenbart. Ein
genauer Blick zeigt jedoch, dass der Held Orest auf göttlichen
Beistand durch Apoll angewiesen ist, der in den entscheidenden
Momenten Fürsprache leistet. Diese antike rhetorische Kunst der
Fürsprache oder Synegoria wird in der Neuzeit von der
Stellvertretung als Wesenszug des Subjekts abgelöst. Spätestens
seit Hobbes bedeutet ›Person sein‹ vertretbar sein durch den
Leviathan. Während Stellvertretung somit einerseits zur Bedingung
für das In-Erscheinung-Treten der Person wird, steht sie
andererseits vermehrt im Verdacht, zu täuschen und zu verstellen.
In Shakespeares »The Tempest« beispielsweise erfährt das Publikum
die Geschichte in den Worten der Person, die zuvor diejenigen, von
denen sie erzählt, gewaltsam unterjocht und versklavt hat. Um 1800
erlangt die Frage, wer für wen spricht, schließlich handfeste
juristische Bedeutung. Schriftliche Verhandlungen und Vernehmungen
hinter verschlossenen Türen werden im Strafprozess vom
unverstellten Sprechen vor dem Richter abgelöst. In der Literatur
werden solch vermeintlich eindeutige Verfahren als scheinheilig
entlarvt. Hoffte Schiller noch, durch die genaue Beobachtung von
Gerichtsprozessen einen unverstellten Blick ins Menschenherz zu
erhaschen, unterläuft der moderne Roman einen solchen Anspruch und
die hinter ihm stehende Ideologie der Unmittelbarkeit. Die bereits
von Kafka und Joyce aufgeworfene Frage, wer oder was im
stellvertretenden Sprechen eigentlich vertreten wird, stellt sich
letztlich in verschärfter Form, wenn politisch darüber verhandelt
wird, wie für Akteure einzutreten ist, die nicht oder nur
eingeschränkt für sich selbst sprechen und handeln können. Wer
steht für die Interessen von Entrechteten, Staatenlosen und
Geflüchteten ein? Und wer spricht für zukünftige Generationen, für
die Umwelt und für Tiere? ———————— Die Literaturwissenschaftlerin
Katrin Trüstedt ist Ko-Leiterin des Programmbereichs
Theoriegeschichte am ZfL und forscht dort zur »Politik des
Erscheinens«. Zuvor hatte sie Positionen als Assistant Professor of
Germanic Languages & Literatures an der Yale University sowie
als Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft in Erfurt inne. Der Philosoph Oliver Precht
ist mit dem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der
französischen Theorie (1945–1995)« wissenschaftlicher Mitarbeiter
am ZfL. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Selbst- und
Fremdbestimmung von Heideggers Philosophie an der
Ludwig-Maximilians Universität München. www.zfl-berlin.

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