Episode 16: Nach der Erinnerung

Episode 16: Nach der Erinnerung

54 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr
Matthias Schwartz (ZfL) und Heike Winkel (Bundeszentrale für
politische Bildung) unterhalten sich über ihren gemeinsam mit Nina
Weller (ZfL) herausgegebenen Band »After Memory. World War II in
Contemporary Eastern European Literatures« (de Gruyter 2021). In
ihrem Gespräch ergründen sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa. ———————— Um die
Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Boom der
Erinnerungsliteratur, der von einer vertieften wissenschaftlichen
Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung flankiert wurde.
Ausgehend von den Gegebenheiten in Westeuropa etablierte sich der
von Maurice Halbwachs geprägte Begriff des kollektiven
Gedächtnisses. Aber lässt sich dieses Modell, das von einer
ungebrochenen staatlichen und generationellen Kontinuität ausgeht,
auf die postsozialistische Situation in Osteuropa übertragen? Diese
kann in zweierlei Hinsicht als eine ›nach der Erinnerung‹
beschrieben werden, denn sie folgte auf die offizielle
sozialistische Erinnerungskultur, die mit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion und ihrer ›Bruderstaaten‹ ein jähes Ende fand, sowie
auf eine lange Zeit des verpassten innerfamiliären Gesprächs über
die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Anders als in Westeuropa, wo
das Gedenken an den Holocaust im Zentrum der Erinnerung an den
Zweiten Weltkrieg stand, überlagern sich in den osteuropäischen
Erinnerungskulturen verschiedene Gegenstände der Erinnerung. Die
Beschäftigung mit NS-Vernichtungskrieg einerseits und
stalinistischer Gewaltherrschaft andererseits kreist dabei häufig
um die Frage, was es heißt, Opfer beider Systeme zu sein. Während
die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für
den westlichen Erinnerungsdiskurs eine nahezu ungebrochene
affektive Identifikation als Opfer oder Nachkomme der Opfer des
Zweiten Weltkriegs festgestellt hat, betont Ernst van Alphen in
seinem Beitrag zum Sammelband die Unmöglichkeit einer positiven
Identifikation mit der Rolle als Volksverräter, die den Opfern der
Gulags vom Staat zugeschrieben wurde. Immer wieder wird die
Doppelrolle als Opfer und Täter verhandelt, die in Diskussionen wie
um Stepan Bandera in der Ukraine oder die polnische »Heimatarmee«
eine große Aktualität hat. In den Romanen von Radka Denemarková und
Szczepan Twardoch beispielsweise widersetzen sich die gewöhnlichen
Held*innen den von außen an die Literatur herangetragenen
Forderungen, moralische Vorbilder zu liefern oder nationale
Narrative zu bedienen. Ein umfassender Blick auf die literarische
Landschaft Osteuropas zeigt allerdings auch, dass Literatur
keineswegs immer ein Medium der kritischen Distanz ist. Mitunter
wird sie im Sinne revisionistischer Aneignungen genutzt, um zu
vereinfachen und nationalistische Diskurse mitzugestalten. Auf dem
Gebiet der alternativen Geschichte und der Konstruktion heroischer
Männlichkeiten ist diese Komplizenschaft im Falle Russlands heute
besonders offensichtlich. Die in fast allen osteuropäischen
Gesellschaften zunehmende nostalgische Verklärung der Vergangenheit
und der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg schließlich kann als
Folge einer durch staatliche Zensur und gesellschaftliche Tabus
verzerrten Erinnerung interpretiert werden, die die Vergangenheit
leichter affektiv besetzbar und für politische Zwecke mobilisierbar
macht. ———————— Die Slawistin Heike Winkel ist Referentin in der
Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa bei der bpb. Zuvor
arbeitete sie als Koordinatorin des Projekts »Sowjetische und
deutsche Kriegsgefangene und Internierte« beim Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge und war von 2004 bis 2016 wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Der Slawist und
Historiker Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL
und Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Dort leitet er
die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch« und »Anpassung und
Radikalisierung«. www.zfl-berlin.org

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