Episode 14: Stil
39 Minuten
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Beschreibung
vor 1 Jahr
Pola Groß und Claude Haas sprechen über die von ihnen
mitherausgegebenen Bände »Neue Nachbarschaften: Stil und Social
Media in der Gegenwartsliteratur« und »Der Stil der
Literaturwissenschaft«. ———————— Wer in der Literaturwissenschaft
vom Stil spricht, ist schnell mit dem Vorwurf des Elitismus
konfrontiert, denn Stilanalysen stehen unter dem Verdacht, rein
werkimmanent und damit realitätsfern zu sein. Dem steht eine
anhaltende Beschäftigung mit Stilgemeinschaften und Lebensstilen in
der Soziologie gegenüber. In einer ›Gesellschaft der
Singularitäten‹, wie sie Andreas Reckwitz beschreibt, gilt der Stil
als letzte Form sozialen Zusammenhalts. Als Begriff, der Ästhetik,
Handlung und Haltung vereint, erweist sich Stil nicht nur als
relevant für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern
auch als eine Größe, die eine genauere Verortung von Schreibenden
und ihren Texten erlaubt. In »Neue Nachbarschaften: Stil und Social
Media in der Gegenwartsliteratur« nehmen Pola Groß und Hanna Hamel
die sogenannte postdigitale Literatur in den Blick. In der
Nachfolge der Popliteratur verweigern Autoren wie Joshua Groß
einfache Identifikationsangebote in Bezug auf Herkunft, Klasse oder
Lifestyle. Durch die Verwendung stilistischer Marker wie Glitches
stellen sie außerdem ein Bewusstsein für die veränderten
Bedingungen des Schreibens nach der Digitalisierung aus. Während
die einen Groß & Co. schlechten (Schreib-)Stil attestieren,
erkennen andere in ihren Texten eine Sensibilität für die
Gegenwart, die im Gegensatz zum gehobenen Stil etwa eines Daniel
Kehlmann der postdigitalen Realität gerecht wird. Aber sind
Glitches im Text und die Übernahme von Schreibverfahren aus den
sozialen Medien bereits subversiv? Oder affirmieren sie nur, was
ohnehin schon zirkuliert? Die Autor*innen der Anthologie »Mindstate
Malibu« jedenfalls beanspruchen, mit Stilmitteln wie Hyperironie
und Überaffirmation das bestehende (Sprach-)System von innen zu
sprengen. Und bei der Lektüre von Romanen wie »Flexen in Miami«
oder »Eurotrash« ahnen manche Leser*innen gar einen utopischen
Überschuss, wo andere nur postironischen Sarkasmus lesen. Auch
letzterer wäre stilistischer Ausdruck einer Haltung zur Welt, wie
sie – im Sinne einer Lebenseinstellung – jede und jeder einzunehmen
gezwungen ist. Besonders deutlich zeigt sich das in den sozialen
Medien mit ihrem permanenten Druck, sich ethisch, politisch oder
über die Wahl eines Lifestyles verhalten zu müssen. Die Einsicht,
dass man dem Stil nicht entkommen kann, ist allerdings alles andere
als neu. Schon Adorno konstatierte einen Zwang zum Stil, und Ludwik
Flecks Überlegungen zu Denkstil und Denkkollektiven machen
deutlich, dass auch in der vermeintlich objektiven Wissenschaft der
Sprachgebrauch und die Zugehörigkeit zu bestimmten
Stilgemeinschaften maßgeblich mitbestimmen, was und wie gedacht
werden kann. Gerade die Literaturwissenschaft bietet sich, wie
Claude Haas und Eva Geulen in »Der Stil der Literaturwissenschaft«
zeigen, aber noch aus einem anderen Grund für eine stilistische
Betrachtung an. Denn deutlicher als in anderen
Geisteswissenschaften stellt sich hier die Frage, wie viel vom Stil
des untersuchten Werks auf den der Forschenden abfärben darf.
———————— Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß war von 2015–2019
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache
und Literatur der Universität zu Köln, wo sie 2018 mit einer Arbeit
zum ›Glück am Ästhetischen‹ bei Adorno promovierte. Derzeit forscht
sie gemeinsam mit dem Germanisten und Komparatisten Claude Haas im
Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart« am ZfL. Haas
ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und
arbeitete dort unter anderem in einem Projekt zur »Theoriebildung
im Medium von Wissenschaftskritik«. Im Wintersemester 2022/23 und
Sommersemester 2023 hat er eine Vertretungsprofessur an der
Universität Konstanz inne. www.zfl-berlin.org
mitherausgegebenen Bände »Neue Nachbarschaften: Stil und Social
Media in der Gegenwartsliteratur« und »Der Stil der
Literaturwissenschaft«. ———————— Wer in der Literaturwissenschaft
vom Stil spricht, ist schnell mit dem Vorwurf des Elitismus
konfrontiert, denn Stilanalysen stehen unter dem Verdacht, rein
werkimmanent und damit realitätsfern zu sein. Dem steht eine
anhaltende Beschäftigung mit Stilgemeinschaften und Lebensstilen in
der Soziologie gegenüber. In einer ›Gesellschaft der
Singularitäten‹, wie sie Andreas Reckwitz beschreibt, gilt der Stil
als letzte Form sozialen Zusammenhalts. Als Begriff, der Ästhetik,
Handlung und Haltung vereint, erweist sich Stil nicht nur als
relevant für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern
auch als eine Größe, die eine genauere Verortung von Schreibenden
und ihren Texten erlaubt. In »Neue Nachbarschaften: Stil und Social
Media in der Gegenwartsliteratur« nehmen Pola Groß und Hanna Hamel
die sogenannte postdigitale Literatur in den Blick. In der
Nachfolge der Popliteratur verweigern Autoren wie Joshua Groß
einfache Identifikationsangebote in Bezug auf Herkunft, Klasse oder
Lifestyle. Durch die Verwendung stilistischer Marker wie Glitches
stellen sie außerdem ein Bewusstsein für die veränderten
Bedingungen des Schreibens nach der Digitalisierung aus. Während
die einen Groß & Co. schlechten (Schreib-)Stil attestieren,
erkennen andere in ihren Texten eine Sensibilität für die
Gegenwart, die im Gegensatz zum gehobenen Stil etwa eines Daniel
Kehlmann der postdigitalen Realität gerecht wird. Aber sind
Glitches im Text und die Übernahme von Schreibverfahren aus den
sozialen Medien bereits subversiv? Oder affirmieren sie nur, was
ohnehin schon zirkuliert? Die Autor*innen der Anthologie »Mindstate
Malibu« jedenfalls beanspruchen, mit Stilmitteln wie Hyperironie
und Überaffirmation das bestehende (Sprach-)System von innen zu
sprengen. Und bei der Lektüre von Romanen wie »Flexen in Miami«
oder »Eurotrash« ahnen manche Leser*innen gar einen utopischen
Überschuss, wo andere nur postironischen Sarkasmus lesen. Auch
letzterer wäre stilistischer Ausdruck einer Haltung zur Welt, wie
sie – im Sinne einer Lebenseinstellung – jede und jeder einzunehmen
gezwungen ist. Besonders deutlich zeigt sich das in den sozialen
Medien mit ihrem permanenten Druck, sich ethisch, politisch oder
über die Wahl eines Lifestyles verhalten zu müssen. Die Einsicht,
dass man dem Stil nicht entkommen kann, ist allerdings alles andere
als neu. Schon Adorno konstatierte einen Zwang zum Stil, und Ludwik
Flecks Überlegungen zu Denkstil und Denkkollektiven machen
deutlich, dass auch in der vermeintlich objektiven Wissenschaft der
Sprachgebrauch und die Zugehörigkeit zu bestimmten
Stilgemeinschaften maßgeblich mitbestimmen, was und wie gedacht
werden kann. Gerade die Literaturwissenschaft bietet sich, wie
Claude Haas und Eva Geulen in »Der Stil der Literaturwissenschaft«
zeigen, aber noch aus einem anderen Grund für eine stilistische
Betrachtung an. Denn deutlicher als in anderen
Geisteswissenschaften stellt sich hier die Frage, wie viel vom Stil
des untersuchten Werks auf den der Forschenden abfärben darf.
———————— Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß war von 2015–2019
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache
und Literatur der Universität zu Köln, wo sie 2018 mit einer Arbeit
zum ›Glück am Ästhetischen‹ bei Adorno promovierte. Derzeit forscht
sie gemeinsam mit dem Germanisten und Komparatisten Claude Haas im
Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart« am ZfL. Haas
ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und
arbeitete dort unter anderem in einem Projekt zur »Theoriebildung
im Medium von Wissenschaftskritik«. Im Wintersemester 2022/23 und
Sommersemester 2023 hat er eine Vertretungsprofessur an der
Universität Konstanz inne. www.zfl-berlin.org
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