Episode 12: Warlam Schalamow – Biographie und Poetik

Episode 12: Warlam Schalamow – Biographie und Poetik

1 Stunde 20 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr
Franziska Thun-Hohenstein spricht mit Stefan Willer über ihre
Warlam Schalamow-Biographie »Das Leben schreiben« und den von
Gabriele Leupold übersetzten Briefband »Ich kann keine Briefe
schreiben« (beide Berlin: Matthes & Seitz 2022). Einleitend
erzählt Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz, wie er
auf den Autor Schalamow gestoßen ist und welche Bedeutung dieser
für den Verlag hat. ———————— Der 1907 im nordwestrussischen Wologda
geborene Warlam Schalamow führte ein Leben zwischen den Extremen.
Sowohl der Schriftsteller als auch die historische Figur Schalamow
stellen seine Biographin dabei vor Herausforderungen: Wie erzählt
man das Leben eines ehemaligen Lagerhäftlings, wenn doch im Lager,
so Schalamow selbst, nur Menschen ohne Biographie agieren? Wie geht
man damit um, wenn die Person, deren Leben erzählt werden soll, die
biographische Form radikal ablehnt? Und wie berichtet man über
Ereignisse und Zeiträume, wenn Archivmaterial und andere Quellen
vernichtet wurden? Franziska Thun-Hohenstein versucht gar nicht
erst, die Brüche in Schalamows Biographie zu glätten und in eine
lineare Erzählung zu überführen. Stattdessen zieht sie zur
Dokumentation der Lagerjahre die Untersuchungsakten des NKWD heran,
die die Einheitlichkeit des biographischen Narrativs im Buch
typographisch wie sprachlich durchbrechen. Aus den Erinnerungen
seiner Zeitgenoss*innen an den berühmt-berüchtigten
›Mandelstam-Abend‹ wiederum tritt nicht nur die wahrgenommene
Diskrepanz zwischen Schalamows Redetalent und seinem zerbrechlichen
Körper zutage. Zusammen mit der im Briefband veröffentlichten
umfangreichen Korrespondenz (mit Boris Pasternak, Nadeshda
Mandelstam, Aleksandr Solshenizyn und anderen) ergibt sich das
Gesamtbild eines widersprüchlichen Charakters, das ein Gegengewicht
zu dem sich allmählich herausbildenden Schalamow-Kult zu bilden
vermag. Denn die von Gabriele Leupold übersetzten Briefe geben
nicht nur Einblicke ins Moskau der Nachkriegsjahrzehnte, sie
zeichnen auch ein Bild von Schalamows Selbstdarstellung zwischen
Selbstironie und schriftstellerischem Geltungsbedürfnis. Als
Literaturwissenschaftlerin untersucht Thun-Hohenstein in der
Biographie, wie Schalamow über sich selbst schreibt, auf welche
Traditionen und Mythen er sich beruft und welcher literarischer
Verfahren er sich bedient. Aus den Erzählungen über seine
Jugendzeit tritt einem beispielsweise der mythische russische
Untergrundmensch des 19. Jahrhunderts entgegen, der alles
Persönliche hinter sich lässt und sich ganz dem revolutionären
Kampf für die Freiheit des Volkes widmet. Diese
Revolutionsbegeisterung, die den 17-jährigen Schalamow nach Moskau
geführt hatte, fand in seiner Faszination für die Avantgarde
Ausdruck. Die Begegnung mit deren Vertretern war für ihn jedoch
enttäuschend, schienen sie doch den unbedingten Glauben an das
poetische Wort, den Schalamow noch im Lager beibehielt, nicht zu
teilen. Die Fähigkeit, das Durchlebte in Sprache zu fassen, war für
ihn Gegenstück zur drohenden Auflösung des Menschen im Lager und
letztlich Beweis für den Sieg des Lebens über den Tod. Trotz seiner
wiederholt betonten Areligiosität beharrte er auf der Fähigkeit des
›lebendigen Wortes‹ zur Auferweckung der Toten. ———————— Die
Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Herausgeberin der
Werkausgabe Warlam Schalamows im Verlag Matthes & Seitz und
Senior Fellow am ZfL, an dem sie von 1996 bis 2020 als
wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Von 2008 bis 2015
leitete sie den Forschungsbereich »Plurale Kulturen Europas« und
forschte am ZfL unter anderem zu Figurationen des Nationalen im
Sowjetimperium und zur Kulturellen Semantik der Schwarzmeerregion.
Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er
stellvertretender Direktor des ZfL. Gespräch und Lesung wurden am
9.11.2022 im Berliner Haus für Poesie aufgezeichnet.
www.zfl-berlin.org

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