Episode 11: Unsterblichkeit

Episode 11: Unsterblichkeit

49 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren
Tatjana Petzer spricht mit Martin Treml über die von ihr
herausgegebene Anthologie »Unsterblichkeit. Slawische Variationen«
(Berlin: Matthes & Seitz 2021). ———————— In den gegenwärtig
hitzig geführten Diskussionen um Trans- und Posthumanismus ist das
Thema Unsterblichkeit geradezu allgegenwärtig. Im Vordergrund
stehen dabei zumeist US-amerikanische und westeuropäische Autoren
und Konzepte, slawischsprachige Perspektiven sind außerhalb von
Fachkreisen kaum bekannt. Dabei gibt es in den Ländern der
ehemaligen Sowjetunion, Mittel- sowie Südosteuropas seit Ende des
19. Jahrhunderts lebhafte Diskussionen und Versuche, das
menschliche Leben potentiell unendlich zu entgrenzen. Die von
Tatjana Petzer herausgegebene Anthologie zu »slawischen
Variationen« der Unsterblichkeit stellt eine Auswahl dieser
Positionen teils in deutscher Erstübersetzung vor, in deren
Zusammenschau über Landes- und Disziplinengrenzen hinweg
Gemeinsamkeiten und Verflechtungen sichtbar werden. Ist von
Unsterblichkeit die Rede, sind metaphysische Überlegungen zum
Nachleben häufig nicht weit. Die in der Anthologie versammelten
Texte eint jedoch, dass sie Unsterblichkeit zuvorderst als
physisches Phänomen betrachten, das mit den Mitteln der
Naturwissenschaft erklärt bzw. erreicht werden kann. Biologen,
Mediziner und Physiker, aber auch Schriftsteller und Publizisten
entwickelten im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene
›Unsterblichkeitstechniken‹, mit deren Hilfe sie den Tod zu
überwinden hofften. Während der Physiker und Experimentalbiologe
Porfiri Bachmetjew dabei auf die Anabiose, das Einfrieren des
Organismus und sein Wiederauftauen bei günstigeren Bedingungen
setzte, strebte die Kybernetik, im Band wissenschaftlich durch
Tanju Kolew, in literarischer Form durch Stanisław Lem vertreten,
eine Überwindung des biologischen Körpers mittels Informations- und
Transplantationstechnik an. In den literarischen Entwürfen
Stanislav Vinavers und Andrej Platonows wiederum soll die
Elektrizität den Tod besiegen, wie es auch in Lenins Ausspruch
»Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des
Landes« anklingt. Neben der individuellen stand im sowjetischen
Diskurs stets auch die soziale Unsterblichkeit des Kollektivs zur
Debatte, die ihre Form in der mit der russischen Revolution
plötzlich erreichbar scheinenden kommunistischen
Zukunftsgesellschaft neuer Menschen finden sollte. Deutlich tritt
hier insbesondere bei Platonow die Spannung zutage, die sich
zwischen dem befreienden Potenzial der Unsterblichkeit und der
unendlichen Arbeit auftut, die mit ihr einhergehen kann. Dem
unsterblichen Körper droht jedoch nicht nur die unendliche
Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern auch unsägliche Langeweile,
vom Immunologen Ilja Metschnikow auf den Begriff der
Lebenssättigung gebracht. Juristische Probleme bleiben ebenso wenig
aus: Gibt es eine Pflicht zu leben? Und wie steht es, ist der
natürliche Tod einmal abgeschafft, um gegenwärtig umstrittene
Fragen wie die von Suizid und Sterbehilfe? ———————— Die
Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer leitete am
ZfL von 2010 bis 2021 als Dilthey-Fellow das Projekt
»Wissensgeschichte der Synergie«. 2019 wurde sie an der Universität
Zürich mit einer Arbeit zu Figurationen des Synergos in der
slavischen Moderne habilitiert. Seit 2017 hatte sie mehrere
Vertretungsprofessuren an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg inne. Der Religionswissenschaftler und Judaist
Martin Treml ist seit 2000 am ZfL tätig, zuletzt mit dem Projekt
»Aby Warburg und die Religionskulturen«. Seit September 2020 hat er
eine DAAD-Gastprofessur für Religionskulturwissenschaft an der
Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi inne. www.zfl-berlin.org

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