Episode 9: Formfragen
1 Stunde 1 Minute
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Beschreibung
vor 2 Jahren
Rabea Kleymann und Eva Geulen (beide ZfL) unterhalten sich über
ihre Bücher »Formlose Form« (Wilhelm Fink 2021), »Aus dem Leben der
Form« (Wallstein 2021) und »Formen des Ganzen« (Wallstein 2022).
———————— Die literaturtheoretischen und ästhetischen Diskurse des
20. Jahrhunderts waren von einer Haltung gegen die Form
gekennzeichnet, sie privilegierten stattdessen Formabbau und
Formlosigkeit. In letzter Zeit ist hingegen vermehrt von der
Wiederkehr der Form die Rede. Im Gespräch gehen Rabea Kleymann und
Eva Geulen diesem neu erwachten Interesse an Formfragen nach und
nehmen die Gegenstände und heutigen Methoden der Formanalyse in den
Blick. Seinen Ausgang nimmt ihr Interesse an der Form bei Goethes
»Heften zur Morphologie« und seinem literarischen Spätwerk, Texten,
die in ihrer ungeordneten Gestalt geradezu ungoethisch wirken. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch das Formlose,
beispielsweise als Aggregat, bei Goethe noch Form hat. Dass
andersherum auch die Form stets formlose Züge trägt, wird mit Blick
auf Goethes Praxis der Reihenbildung deutlich. Diese sorgt zwar
einerseits für Ordnung, trägt andererseits aber auch dazu bei,
vorschnelle Synthesen zu vermeiden. An der Reihe lässt sich zudem
exemplarisch die im 18. Jahrhundert einsetzende Verzeitlichung des
Formbegriffs nachvollziehen, mit der das antike Verständnis der
Form als gegebener Größe verabschiedet wird. Historische Beispiele
wie das zyklische Geschichtsmodell eines Oswald Spengler zeigen
wiederum, dass die Morphologie mit ihrem geschlossenen Formsystem,
in dem jede Entwicklung im Keim bereits angelegt ist, letztlich ein
konservatives Moment in sich trägt. Dass die an Ganzheit und
Gesetzmäßigkeit orientierte Morphologie trotz alledem auch in den
Verfahren des ihr vermeintlich entgegengesetzten, mit Differenzen
operierenden Strukturalismus nachlebt, zeigt sich beispielhaft an
Vladimir Propps Untersuchungen zum Märchen. Anhand dieser lässt
sich auch der häufigen Reduktion von ›Form‹ auf bereits
feststehende Form, und das heißt: Gattung, begegnen. Im zweiten
Teil des Gesprächs geht es darum, was gegenwärtige Ansätze und
Verfahren zur Klärung der neu entdeckten Formfragen beitragen
können. Während der New Formalism mit seinem Anliegen, Form als
soziale Kategorie zu begreifen, Gefahr läuft, das Untersuchungsfeld
zu nivellieren und dabei die Eigenheiten des Literarischen zu
unterschlagen, stellt sich mit Blick auf die Digital Humanities die
Frage, inwiefern deren quantifizierende Verfahren mehr sind als die
bloße empirische Unterfütterung etablierten Formwissens. Leisten
die Digital Humanities tatsächlich einen Beitrag zum Verständnis
von Literatur und Kultur unter digitalen Bedingungen? Und können
digitale Methoden und neue Formalismen bei der Neubestimmung
verabschiedet geglaubter Formen wie der des Ganzen helfen, die in
Zeiten von Globalisierung und Klimawandel eine Renaissance erleben?
———————— Die Literaturwissenschaftlerin Rabea Kleymann ist mit dem
Projekt »Diffraktive Epistemik: Wissenskulturen der Digital
Humanities« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL und
Vorstandsmitglied des Verbandes Digital Humanities im
deutschsprachigen Raum (DHd). Sie promovierte 2020 an der
Universität Hamburg zur »Epistemik und Poetik des Aggregats beim
späten Goethe«. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die
Direktorin des ZfL und Professorin für europäische Kultur- und
Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der
Humboldt-Universität zu Berlin. Am ZfL leitete sie unter anderem
das Projekt »Zeit und Form im Wandel. Goethes Morphologie und ihr
Nachleben in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts«.
www.zfl-berlin.org
ihre Bücher »Formlose Form« (Wilhelm Fink 2021), »Aus dem Leben der
Form« (Wallstein 2021) und »Formen des Ganzen« (Wallstein 2022).
———————— Die literaturtheoretischen und ästhetischen Diskurse des
20. Jahrhunderts waren von einer Haltung gegen die Form
gekennzeichnet, sie privilegierten stattdessen Formabbau und
Formlosigkeit. In letzter Zeit ist hingegen vermehrt von der
Wiederkehr der Form die Rede. Im Gespräch gehen Rabea Kleymann und
Eva Geulen diesem neu erwachten Interesse an Formfragen nach und
nehmen die Gegenstände und heutigen Methoden der Formanalyse in den
Blick. Seinen Ausgang nimmt ihr Interesse an der Form bei Goethes
»Heften zur Morphologie« und seinem literarischen Spätwerk, Texten,
die in ihrer ungeordneten Gestalt geradezu ungoethisch wirken. Bei
näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch das Formlose,
beispielsweise als Aggregat, bei Goethe noch Form hat. Dass
andersherum auch die Form stets formlose Züge trägt, wird mit Blick
auf Goethes Praxis der Reihenbildung deutlich. Diese sorgt zwar
einerseits für Ordnung, trägt andererseits aber auch dazu bei,
vorschnelle Synthesen zu vermeiden. An der Reihe lässt sich zudem
exemplarisch die im 18. Jahrhundert einsetzende Verzeitlichung des
Formbegriffs nachvollziehen, mit der das antike Verständnis der
Form als gegebener Größe verabschiedet wird. Historische Beispiele
wie das zyklische Geschichtsmodell eines Oswald Spengler zeigen
wiederum, dass die Morphologie mit ihrem geschlossenen Formsystem,
in dem jede Entwicklung im Keim bereits angelegt ist, letztlich ein
konservatives Moment in sich trägt. Dass die an Ganzheit und
Gesetzmäßigkeit orientierte Morphologie trotz alledem auch in den
Verfahren des ihr vermeintlich entgegengesetzten, mit Differenzen
operierenden Strukturalismus nachlebt, zeigt sich beispielhaft an
Vladimir Propps Untersuchungen zum Märchen. Anhand dieser lässt
sich auch der häufigen Reduktion von ›Form‹ auf bereits
feststehende Form, und das heißt: Gattung, begegnen. Im zweiten
Teil des Gesprächs geht es darum, was gegenwärtige Ansätze und
Verfahren zur Klärung der neu entdeckten Formfragen beitragen
können. Während der New Formalism mit seinem Anliegen, Form als
soziale Kategorie zu begreifen, Gefahr läuft, das Untersuchungsfeld
zu nivellieren und dabei die Eigenheiten des Literarischen zu
unterschlagen, stellt sich mit Blick auf die Digital Humanities die
Frage, inwiefern deren quantifizierende Verfahren mehr sind als die
bloße empirische Unterfütterung etablierten Formwissens. Leisten
die Digital Humanities tatsächlich einen Beitrag zum Verständnis
von Literatur und Kultur unter digitalen Bedingungen? Und können
digitale Methoden und neue Formalismen bei der Neubestimmung
verabschiedet geglaubter Formen wie der des Ganzen helfen, die in
Zeiten von Globalisierung und Klimawandel eine Renaissance erleben?
———————— Die Literaturwissenschaftlerin Rabea Kleymann ist mit dem
Projekt »Diffraktive Epistemik: Wissenskulturen der Digital
Humanities« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL und
Vorstandsmitglied des Verbandes Digital Humanities im
deutschsprachigen Raum (DHd). Sie promovierte 2020 an der
Universität Hamburg zur »Epistemik und Poetik des Aggregats beim
späten Goethe«. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die
Direktorin des ZfL und Professorin für europäische Kultur- und
Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der
Humboldt-Universität zu Berlin. Am ZfL leitete sie unter anderem
das Projekt »Zeit und Form im Wandel. Goethes Morphologie und ihr
Nachleben in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts«.
www.zfl-berlin.org
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