Episode 5: Chor

Episode 5: Chor

1 Stunde 8 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren
In ihren aktuellen Büchern »Chor-Denken« (Paderborn: Wilhelm Fink
2020) und »Chor und Theorie« (Konstanz: KUP 2021) nähern sich
Sebastian Kirsch (ZfL) und Maria Kuberg (Universität Konstanz) dem
Verhältnis von Chor und Denken bzw. Theorie einmal aus theater-,
einmal aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Fluchtpunkt
aller europäischen Verhandlungen des Chorischen ist die antike
Tragödie mit ihrer Gegenüberstellung von skene und orchestra, von
Protagonist und Chor. Während Sebastian Kirsch die antiken Texte
durch die Brille des späten Foucault liest, wählt Maria Kuberg
einen historisierenden Ansatz und betrachtet den antiken Chor
»through our German eyes« (Simon Goldhill). Deutlich wird dabei,
dass Aneignungen des Chors nie geradlinig, sondern stets historisch
gebrochen verlaufen. ———————— Gemeinsam ist beiden Ansätzen das
Anliegen, den Irrtum auszuräumen, dass der Chor in einer
dualistischen Ordnung dem Protagonisten gegenübersteht. Er muss
vielmehr als Kippfigur zwischen Figuration und Defiguration
begriffen werden, in antiken Begriffen als Vertreter des Kosmos,
der vor der Reduktion auf die Sphären von Oikos und Polis
selbstverständlicher Teil der griechischen Welt war. In
verschiedenen Formen des Chorischen können somit unterschiedliche
Formen der Gemeinschaft mit ihren Ein- und Ausschlüssen sowie
Totalisierungsgefahren durchexerziert werden. Ebenso erlauben sie
es, weltumspannende Phänomene wie Klimakrise, Flüchtlingszüge und
Pandemie zu verhandeln, die sich nicht in den binären Oppositionen
von Lokalem und Globalem oder Eigenem und Fremdem verstehen lassen.
In den von Maria Kuberg untersuchten Theatertexten zeigt sich, dass
der Chor aufs Engste mit der Theorie verbunden ist, deren
nichtanschaulichen Inhalten er Sichtbarkeit verleihen kann. Nicht
zufällig gehen die Krise der Anschauungslogiken und die emphatische
Wiederentdeckung des Chors an der Wende zum 20. Jahrhundert
miteinander einher. Chor und Anschauung hängen aber noch auf andere
Weise miteinander zusammen. Durch Rückgriff auf somatische Konzepte
des Denkens zeigt Sebastian Kirsch, was sie mit den Sorgeschulen
der Kyniker, Epikureer und Stoiker gemein haben und warum wir uns
diese eher als chorische Philosophiebanden vorstellen sollten denn
als strenge Akademien. Diese Neuverortung des Chors mag nicht
zuletzt dazu beitragen, dessen Prominenz im postdramatischen
Theater besser zu verstehen, das insbesondere nach dem Verblassen
bestimmter Utopien von Gemeinschaft nach 1989 das Verhältnis von
Privatem und Öffentlichem, Individuum und Gesellschaft verhandelt.
———————— Der Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch ist mit dem
Projekt »Umgebungswissen der Theatermoderne. Milieu – Umwelt –
Environment / Hauptmann – Appia – Kiesler Feodor«
Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am
ZfL. Er wurde 2018 in Bochum für das Fach Theaterwissenschaft
habilitiert. Die Literaturwissenschaftlerin Maria Kuberg ist
akademische Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literatur an der
Universität Konstanz. Am ZfL arbeitete sie zuletzt von 2018–2019 an
dem Projekt »Einheit und Vielfalt. Epospoetiken des Späthumanismus
und der Frühaufklärung«. Zuvor war sie mit dem Projekt »Der Chor.
Theorie-Theater-Texte von Heiner Müller bis René Pollesch«
Doktorandin am ZfL. www.zfl-berlin.org

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