„Auschwitz liegt auch in der Schweiz“ – mit Jacques Picard und Dina Wyler
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vor 1 Jahr
„Auschwitz liegt nicht in der Schweiz“ sagte Bundespräsident
Delamuraz 1996 zur Abwehr jüdischer Forderungen im Zusammenhang
der „nachrichtenlosen Vermögen“ von Opfern der Shoa auf Schweizer
Banken. Über die schweizerischen Verwicklungen mit den
NS-Verbrechen und das diesbezügliche Verdrängen und Erinnern
diskutiere ich mit Prof. Jacques Picard, Präsident der Stiftung
jüdische Zeitgeschichte der ETH-Zürich und Dina Wyler, ehem.
Leiterin der Stiftung gegen Antisemitismus und Rassismus.
In der NS-Zeit wurde vielleicht 15'000 Juden und
Jüdinnen die Zuflucht in die Schweiz verweigert. Gemäß Picard war
„tatsächlich diese Abweisungspolitik auch antisemitisch
eingegeben (..) Zumindest bei einem Teil der Behörden war der
Jude der unerwünschte Ausländer, mit dem man gleichzeitig und
vorgeblich auch das nationalsozialistische Gedankengut an der
Grenze abhalten und wegstellen konnte. Also indem man vermied,
Juden aufzunehmen, sagte man, vermeiden wir eben auch, dass eine
Judenfrage auch in der Schweiz entsteht, (..) was dann
vordergründig ausgegeben werden konnte als eine Ablehnung des
nationalsozialistischen Gedankenguts.“ Trotzdem fanden während
der NS-Zeit insgesamt vielleicht 30‘000 Juden und Jüdinnen
Zuflucht in der Schweiz. „Die schweizerische Flüchtlingspolitik
gegenüber den Juden“ sei aber, so Picard, kaum „von der Schweiz
finanziert worden, sondern von den Schweizer Juden mit Hilfe von
Spenden amerikanischer Juden", die eigentlich weitgehend die
jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz über Wasser gehalten
hätten.
Zum Verdrängen dieser Verwicklung verweist Picard auf Churchill,
der kurz nach Kriegsende vom „segensreichen Akt des Vergessens“
sprach. „Das bewusste Vergessen war paradigmatisch dem Zeitgeist
geschuldet. Und dass wir uns heute dem Paradigma des Erinnerns
und Gedenkens zuwenden, ist eine Entwicklung (..) so ab den 80-er
und 90-er Jahren.“ In dieser Entwicklung gebe es, so Dina Wyler
jedoch „keine Kontinuitäten, sondern Konjunkturen (..). Man macht
zwei Schritte noch vorne und einen zurück.“ Wobei „der Druck für
das Erinnern oftmals aus dem Ausland kam, Stichwort
‚Nachrichtenlose Vermögen‘“.
Die Frage vergessen oder erinnern macht Dina Wyler daran fest,
„von wem sprechen wir? Wenn wir über die Betroffenen reden, da
war zuerst einmal Vergessen eine Überlebensstrategie. (..) Was
jetzt passiert, ist vor allem, dass die dritte Generation
beginnt, Fragen zur stellen, weil sie den nötigen Abstand hat,
eben nicht zu vergessen, und damit erinnern kann, was den
Grosseltern, Urgrosseltern passiert ist.“ Die eigentliche
Verantwortung für das Erinnern liege aber nicht bei den
Betroffenen, sondern bei der Gesamtgesellschaft, vor allem heute,
wo kaum mehr Zeitzeugen leben.
Zum „Doppelbegriff von Holocaust und Shoa“, erklärt Picard: „Der
Holocaustbegriff ist (..) eigentlich ein Sakralbegriff, er
bedeutet Brandopfer. Damit wird eine quasi religiöse Überhöhung
des Opfergedankens mitimpliziert, das ist natürlich
hochambivalent, während Shoa (..) ganz einfach die Katastrophe,
Vernichtung“ bedeute. Ob in diesem Zusammenhang über den Mord an
Menschen, anstatt über den Mord an Juden gesprochen werden soll,
widerspricht Picard entschieden, weil „die Universalisierung des
Gedenkens an den Mord über das Wort Menschen und Menschentum
letztlich auch die Gefahr in sich birgt, dass man die Juden zum
Verschwinden bringt im Gedenken.“
Bezüglich der Chancen für das Erinnern in der Zukunft sind beide
optimistisch, Jacques Picard, „weil die dritte und auch schon die
vierte Generation, und zwar nicht nur Opfer-seitig, sondern auch
Täter-seitig, in einer Art darüber sprechen, wo man gut annehmen
kann, dass Erinnern und Gedenken für sie zur Normalität des
Lebens gehören.“ Für Dina Wyler sei es nebst dem Erinnern an die
Ermordeten „persönlich immer ganz wichtig zu betonen (..) : Es
gibt auch lebendige Juden und Jüdinnen. Wir sind hier, wir sind
am Leben, wir tragen diese Erinnerungsarbeit fort“.
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