“Können Gesellschaften aus der Geschichte lernen?” - mit Durs Grünbein und Eva Menasse

“Können Gesellschaften aus der Geschichte lernen?” - mit Durs Grünbein und Eva Menasse

46 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

Wenn Gesellschaften aus den Katastrophen der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts nur beschränkt gelernt haben, wie können wir uns
einbilden, mit den aktuellen Krisen adäquat umgehen zu
können?  - Über die Frage der Lernfähigkeit von
Gesellschaften diskutiere ich mit der Schriftstellerin Eva
Menasse und dem Dichter Durs Grünbein.

Durs Grünbein machte in den letzten Jahren hinsichtlich des
„zentralen Abgrunds des 20. Jahrhunderts, Auschwitz“, eine neue
Erfahrung, nämlich: „einerseits sterben die letzten Zeugen“,
andererseits sieht er eine grosse Gefahr (..) in einer
Neutralisierung der Geschichte, (..) dass eine Menge anderer
Diskurse ins Spiel kommen“ und „die Gegenstände gegeneinander
aufgehoben werden“. Für Eva Menasse „verhält es sich mit dem
Lernen aus der Geschichte ähnlich wie mit vielen andern
menschlichen Fähigkeiten, dass sie nur eine Zeit lang anhalten“.
„So werden die Lehren aus der Geschichte von Gesellschaften über
ein zwei, vielleicht drei Generationen aufgenommen (..) Und dann
kommen wieder andere Sachen hoch.“

Auf die generelle Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann,
sagt Menasse „Deutschland hat etwas gelernt“ und sei „auf eine
erstaunliche Weise im Moment noch immun gegen (..) den Zerfall,
gegen diese demokratischen Karies und das kann ich mir nicht
anders erklären als mit der Impfung, dass drei Generationen durch
das tiefe Tal gehen mussten: Was haben wir in der Weltgeschichte
angerichtet?“

Kann die Realität heute unter dem Einfluss der Sozialen Medien
überhaupt noch richtig wahrgenommen werden, um daraus lernen zu
können? Für Eva Menasse ist „für das allermeiste, was wir heute
an politischer und gesellschaftlicher Verunsicherung und
Extremisierung erleben, direkt zurückzuführen auf die Phänomene
der digitalen Moderne (..) Das, was seit ungefähr 2008 über die
Welt hereingebrochen ist durch die digitale Massenkommunikation,
(..)ist bis heute nicht verstanden worden."  Dieser Prozess
zerstöre Kommunikation und Diskurs. Dabei werden die Menschen
durch die Informationsflut "wahnsinnig überfordert".„Information
selber wird zu einem Gift“. Die Folgen seien eine Verunsicherung,
eine Wut und eine Unruhe, und daraus eine „kollektiven Skepsis,
dass man niemandem irgendetwas glauben muss und dass es Wahrheit
vielleicht gar nicht mehr gibt“. Ihr Beispiel sind „die
grassierende Impfgegnerschaften“ und daraus die Erkenntnis eines
Immunologen: „Wenn es in den Sechziger- und Siebzigerjahre schon
die sozialen Medien gegeben hätte, dann hätten wir die Pocken
nicht ausgerottet“.

Dagegen hält Grünbein, dass es die Wahrheit nach wie vor gebe,
sie sei uns nicht abhanden gekommen. Wir wissen zwar nicht,
welche Auswirkungen die digitale Moderne auf die Demokratie habe,
selbst wenn „die Begründer des Internets in einem Manifest“
bekennen mussten: „Es ist alles schiefgegangen, sorry“. Trotzdem
bleibe er optimistisch, weil man das, „was die Propaganda der
Wahrheit entgegenstellt, immer wieder durchkreuzen kann durch
Aufklärung. Ich glaube weiterhin daran.“ Dagegen ist Menasse
„viel, viel pessimistischer“, weil „wir an einem Zeitpunkt
angelangt sind, wo die Gesellschaft viel geschichtsvergessener
und geschichtsblinder ist, als je zuvor“. Dem stimmt Grünbein
insofern zu, dass er heute die „Hauptkrise in den Akademien, in
den Schulen“ verordnet, die mit der Wahrheitsvermittlung 
überfordert sind.

Trotzdem ist beiden der Optimismus nicht abhanden gekommen,
Grünbein: „ich sehe durchaus einen Sinn in der Geschichte, der
erschließt sich erst später (..) und dann ist die Bilanz nicht so
negativ.

p.s. Korrektur:  Bundespräsident Delamuraz sagte 1996:
 "Auschwitz liegt nicht in der Schweiz" - das war nicht
1986.

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15
:
: