Z0136 Das allmähliche und das plötzliche Erwachen - Teisho vom 16.1.2021

Z0136 Das allmähliche und das plötzliche Erwachen - Teisho vom 16.1.2021

34 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren
Anhand des Koans Nr. 38 aus dem Hekiganroku spricht Christoph Rei
Ho Hatlapa über die Wege zum Erwachen und den Umgang mit dem
Bewusstsein einer sich ständig wandelnden Welt. Die Zen-Tradition
berichtet von einer Auseinandersetzung zwischen der nördlichen und
der südlichen Schule des Zen in China: Die nördliche Schule vertrat
die Lehre von der allmählichen Reifung und Entwicklung, während die
südliche Schule nach dem plötzlichen Erwachen strebte. Eine
plötzliche existentielle Erschütterung kann unter Umständen zu
einer Art von Erwachen führen, einem inneren Umschlagen der Sicht
der Welt, das zu einer ganz anderen und realeren Auffassung des
Lebens führt. Aber auch ein solcher radikaler Paradigmenwechsel in
der persönlichen Erfahrung braucht danach einen Integrations- und
Reifungsprozess, wie Christoph Rei Ho Hatlapa am Beispiel der
Lebensgeschichte von Reiko Mukai, genannt Kosan, erläutert. Der -
irrtümlichen - Auffassung, dass mit einem existentiellen Erwachen
schon alles erreicht wäre, widersprach der Zenmeister Oi Saidan
Roshi, obwohl er Reiko Mukais "Erwachen" anerkannte. Denn auch nach
einem tiefen Erwachen liegt der lange Weg der Integration und
Reifung noch vor uns. Das Erwachen, selbst ein tiefes Erwachen mit
einer echten Einsicht in die Wesensgleichheit, braucht danach immer
noch die Integration mit dem Leben im Alltag und die Bewährung in
der Praxis des realen Lebens. Aber auch ohne ein initiales
existentielles Erlebnis kann eine gut angeleitete Schulung zu einem
fortschreitenden Prozess des Erwachens führen. Beide Wege, die
sogenannte "plötzliche Erleuchtung" und die langsame Reifung können
sich tatsächlich gegenseitig ergänzen. Diese Integration und
Reifung wird in der zenbuddhistischen Tradition, hier vom Meister
Fuketsu vertreten, als das Dharmasiegel des Buddha und der
Patriarchen bezeichnet. Wer diesen Weg gegangen ist und diese
Integration geleistet hat, der kann mit den drei Daseinsmerkmalen
des Lebens schöpferisch und aktiv umgehen. Diese drei
Daseinsmerkmale sind, laut buddhistischer Lehre: 1.: Die
Nicht-Substantialität des Ich (anatta), 2.: die Vergänglichkeit und
Flüchtigkeit aller Erscheinungen (anicca) und 3.: Das Verlöschen
aller Konzepte im Erwachen (nirvana). In dem Maße, in dem wir mit
diesen Daseinsmerkmalen - nicht nur als gedanklich wiedergekäute
Theorien, sondern als selbst erfahrene Einsichten - im realen Leben
präsent und schöpferisch umgehen können, in dem Maße kann man dann
wirklich von Erwachen sprechen. Gerade die selbst erfahrene
Einsicht in die Natur der Vergänglichkeit aller Erscheinungen, bis
hin zu den Beziehungen der Menschen untereinander, kann uns dann
öffnen für die Einzigartigkeit und die volle Intensität jeden
Augenblicks. Wir werden dann sorgfältiger im Umgang untereinander
und mit der Mitwelt und bleiben auch dann hellwach, wenn wir durch
unangenehme Erlebnisse hindurchgehen. Und in dem Maße, in dem wir
wissen - durch eigene Einsicht - was mit Nicht-Ich (anicca) gemeint
ist, können wir auch die eigene Vergänglichkeit bis hin zum eigenen
biologischen Tod annehmen. Wir wissen dann, dass das Große Leben,
aus dem wir alle hervorgegangen sind, weitergeht. Und wir können
darauf vertrauen, dass wir in diesem über uns hinausreichenden
größeren Zusammenhang aufgehoben bleiben; auch wenn das, was wir
heute für unser "Ich" halten, sich in seine Bestandteile aufgelöst
hat. Wie in unserer buddhistischen Tradition immer wieder aus dem
Herz-Sutra, dem Hannya-Shingyo, rezitiert wird: Nichtbegrenztheit
(Leerheit, shunyata) ist identisch mit den Formen, die Formen sind
identisch mit der Nicht-Begrenztheit, der Leerheit. Damit wir diese
Identität von Großem Leben und unserem begrenzten eigenen Leben,
diese Identität von Form und Leerheit, im realen Leben umsetzen
können, brauchen wir die Übungspraxis. Auf diesem Weg der
Integration können wir in zunehmendem Maße mit dem ständig neue
Formen gebärenden Gewebe des Großen Lebens in Einklang kommen.

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