441-Ein „Raum des Gedenkens“-Buddhismus im Alltag
6 Minuten
Beschreibung
vor 1 Jahr
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Oben im Haus gab es einen kleinen Raum, hier
bewahrte sie alle Erinnerungen ihres verstorbenen Sohnes auf. All
seine Briefe, seine Kleider und Schuhe, seine Musiksammlung,
seine Modelautos, Fotos von ihm, vom kleinen Jungen bis zum
erwachsenen Mann, alle Dinge, die einst ihm gehörten.
Es war sein Zimmer, er liebte den Blick aus dem
kleinen Fenster, hinaus in den Garten mit den vielen Bäumen.
Jedes Mal wenn sie hier oben war dachte sie an ihren
„kleinen Jungen“, an die vielen Geschichten, die großen
Erlebnisse, in Gedanken sah sie ihn am Tisch sitzen, der Boden
voller Spielzeug, wenn sie in diesem Zimmer war schien es ihr,
als würde er noch leben.
Zwei Jahre war es her seit dem Unfall. Genau vor
der Haustüre, ein Auto kam um die Kurve, ihr Sohn wollte gerade
mit dem Fahrrad losfahren, ein großer Knall, viel Blut, der
Rettungswagen kam schnell, der Tod war schneller. Den Fahrer traf
keine Schuld, es war nur eine Verkettung unglücklicher Umstände
die zu dem Zusammenstoß führten.
Die Bilder dieses Tages hatten sich sofort bei
ihr eingebrannt, immer wenn sie seitdem aufwachte startete
derselbe Film in ihrem Kopf, sie sah den Unfall wieder und
wieder. Ihr Ego quälte sie Tag für Tag mit dem vergangenen,
furchtbaren Ereignis.
Wenn sie besonders traurig wurde stieg sie hinauf in sein altes
Zimmer, sie richtete sein Bett, lüftete den Raum, richtete seine
Kleidung, ordnete die Sachen neu. Wenn sie fertig war setzte sie
sich an den Tisch und schaute aus dem Fenster, ganz in ihren
Gedanken versunken.
Der Schmerz war stark und hörte nicht auf, egal
was sie tat, warum nur ihr Sohn, wie konnte das nur passieren?
Ihre Familie versuchte alles nur Mögliche um sie
abzulenken, sie zu trösten, doch niemand konnte ihr helfen, sie
wollte auch keine Hilfe, sie wollte nur „bei ihrem Sohn sein“.
Und in seinem Zimmer fühlte sie sich ihm am nächsten.
Ein leichter Windzug kam durch das Fenster, als ihr Blick auf die
Bücher ihres Sohnes fiel. Ein besonders farbenfrohes Exemplar
stach ihr in die Augen, warum war ihr dieses Buch vorher noch nie
aufgefallen? „Buddha“ stand auf dem Buchrücken, sie setzte sich
wieder an den Tisch und begann darin zu blättern. Sie war
Christin, mit Buddhismus konnte sie nicht viel
anfangen, aber weil es ein Buch ihres Sohnes war las sie einfach
weiter.
Während sie sich in die Lehre des indischen Prinzen vertiefte
fühlte sie eine warme Welle in sich aufsteigen, eine Form
von Frieden breitete sich in ihr aus. Wie konnte das
sein, fragte sie bei sich. Aber sie sah sich weiter Seite um
Seite an, die Zeit verging, schnell war es dunkel, sie musste das
Licht einschalten. Ihr Mann und die Tochter kamen nach Hause,
riefen nach ihr. Sie schloß das Buch und stieg die Treppe hinab
ins Wohnzimmer, den Band behielt sie aber fest in ihren Händen.
Jeden Tag las sie in diesem Buch, die Philosophie Buddhas gab ihr
viel Trost, sie gewann ihre verlorene Sicherheit zurück.
Dann kam der Tag, an dem sie nicht mehr in den "Raum des
Gedenkens" ging. Sie hatte „Erleuchtung“ erfahren.
Es gibt ein Buch, das viele, die es auswendig wissen,
nicht kennen- Marie von Ebner-Eschenbach -
Österreichische Schriftstellerin -
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