Wofür brauchen wir eine Philosophie der Moral? Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten I.4 (Fortsetzung)

Wofür brauchen wir eine Philosophie der Moral? Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten I.4 (Fortsetzung)

9 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei,
dazu brauche ich gar keine weit ausho|lende Scharfsinnigkeit.
Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich
eräugnende Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur:
Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz
werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich und das zwar nicht um
eines dir oder auch anderen daraus bevorstehenden Nachtheils
willen, sondern weil sie nicht als Princip in eine mögliche
allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber zwingt mir
die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch
nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph
untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es
eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was
durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die
Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs
praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der
jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung
eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht.


So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß der gemeinen
Menschenvernunft bis zu ihrem Princip gelangt, welches sie sich
zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert
denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum
Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht. Es wäre hier leicht zu
zeigen, wie | sie mit diesem Compasse in der Hand in allen
vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden,
was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei, wenn
man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie
Sokrates that, auf ihr eigenes Princip aufmerksam macht, und daß
es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu
wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um
weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich auch wohl schon zum
voraus vermuthen, daß die Kenntniß dessen, was zu thun, mithin
auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des
gemeinsten Menschen Sache sein werde. Hier kann man es doch nicht
ohne Bewunderung ansehen, wie das praktische
Beurtheilungsvermögen vor dem theoretischen im gemeinen
Menschenverstande so gar viel voraus habe. In dem letzteren, wenn
die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen und den
Wahrnehmungen der Sinne abzugehen, geräth sie in lauter
Unbegreiflichkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens
in ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im
praktischen aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben allererst
an, sich recht vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand
alle sinnliche Triebfedern von praktischen Gesetzen ausschließt.
Er wird alsdann sogar subtil, es mag sein, daß er mit seinem
Gewissen oder anderen Ansprüchen in Beziehung auf das, was recht
heißen soll, chicaniren, oder | auch den Werth der Handlungen zu
seiner eigenen Belehrung aufrichtig bestimmen will, und was das
meiste ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoffnung
machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph
versprechen mag, ja ist beinahe noch sicherer hierin, als selbst
der letztere, weil dieser doch kein anderes Princip als jener
haben, sein Urtheil aber durch eine Menge fremder, nicht zur
Sache gehöriger Erwägungen leicht verwirren und von der geraden
Richtung abweichend machen kann. Wäre es demnach nicht rathsamer,
es in moralischen Dingen bei dem gemeinen Vernunfturtheil
bewenden zu lassen und höchstens nur Philosophie anzubringen, um
das System der Sitten desto vollständiger und faßlicher,
imgleichen die Regeln derselben zum Gebrauche (noch mehr aber zum
Disputiren) bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in
praktischer Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner
glücklichen Einfalt abzubringen und ihn durch Philosophie auf
einen neuen Weg der Untersuchung und Belehrung zu bringen? ...



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