Haben Handlungen aus Liebe moralischen Wert? Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten I.2 (Fortsetzung)

Haben Handlungen aus Liebe moralischen Wert? Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten I.2 (Fortsetzung)

9 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflichtwidrig
erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht
nützlich sein mögen; denn bei denen ist gar nicht einmal die
Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser
sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen bei Seite, die
wirklich pflichtmäßig sind, zu denen aber Menschen unmittelbar
keine Neigung haben, sie aber dennoch ausüben, weil sie durch
eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn | da läßt sich
leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht
oder aus selbstsüchtiger Absicht geschehen sei. Weit schwerer ist
dieser Unterschied zu bemerken, wo die Handlung pflichtmäßig ist
und das Subject noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat.
Z.B. es ist allerdings pflichtmäßig, daß der Krämer seinen
unerfahrnen Käufer nicht übertheure, und, wo viel Verkehr ist,
thut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen
festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind
eben so gut bei ihm kauft, als jeder andere. Man wird also
ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu
glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der
Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil erforderte es; daß er
aber überdem noch eine unmittelbare Neigung zu den Käufern haben
sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem andern im Preise
den Vorzug zu geben, läßt sich hier nicht annehmen. Also war die
Handlung weder aus Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung,
sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen.


Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und überdem hat
jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Aber um deswillen
hat die oft ängstliche Sorgfalt, die der größte Theil der
Menschen dafür trägt, doch keinen innern Werth und die Maxime
derselben keinen moralischen |IV398 Gehalt. Sie bewahren ihr
Leben zwar pflicht|mäßig aber nicht aus Pflicht. Dagegen wenn
Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben
gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an
Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmüthig oder
niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält,
ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus
Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.


Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem giebt es
manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen
andern Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein
inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und
die sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk ist,
ergötzen können. Aber ich behaupte, daß in solchem Falle
dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch
ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe, sondern mit
andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung nach
Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der
That gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob
und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient; denn der
Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen
nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu thun. Gesetzt also, das
Gemüth jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der
alle | Theilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte
immer noch Vermögen, andern Nothleidenden wohlzuthun, aber fremde
Noth rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen gnug
beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt,
risse er sich doch aus dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus
und thäte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht,
alsdann hat sie allererst ihren ächten moralischen Werth. 



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