Erschreckte Überlegung - Vierter Advent/Heiliger Abend Lk 1,26-38

Erschreckte Überlegung - Vierter Advent/Heiliger Abend Lk 1,26-38

5 Minuten

Beschreibung

vor 1 Jahr

„Irgendwie kommt Weihnachten jedes Jahr überraschend“, sagte vor
Jahren eine Freundin von mir und lächelte. Sie ist Mutter einer
kinderreichen Familie und wollte sagen: Die Vorbereitungszeit ist
immer zu kurz. Wir nehmen uns immer zu viel vor. Es wäre immer
noch was zu tun. Und scheinbar plötzlich ist keine Zeit mehr,
weil Weihnachten ist.


Dieses Jahr mag es einem erst recht so vorkommen. Der Advent ist
so kurz wie nie. Die Vierte Adventswoche dauert nur einen Tag. Am
Abend des Vierten Advents beginnt das Weihnachtsfest – „irgendwie
überraschend“.


Von einem Erschrecken erzählt das heutige Evangelium: Ein Engel
verkündet Maria die Geburt Jesu. Aber Maria erschrickt nicht etwa
darüber, dass ein Engel im Zimmer steht. Sie hat ja nicht von ihm
geträumt wie Josef oder eine Engel-Erscheinung gehabt wie
Zacharias, der Vater Johannes des Täufers.


Ein sichtbarer Engel im Zimmer – das wäre mal ein Grund zum
Erschrecken. Aber Maria erschrickt nicht über seine Sichtbarkeit.
Es klingt fast so, als wäre die ihr ganz selbstverständlich. Sie
erschrickt über seine Anrede.


„Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“, sagt der
Engel. Und Maria, erzählt der Evangelist Lukas, „erschrak über
die Anrede und überlegte, was dieser Gruß zu bedeuten habe.“ Das
möchte ich verstehen und mitempfinden: „Sie erschrak … und
überlegte.“


Gut, wenn Josef das gesagt hätte, dann wäre das charmant gewesen
und zärtlich und vielleicht verliebt. Aber dieses Wort tritt aus
der „unsichtbaren Welt“ (Credo), aus der Unverfügbarkeit und
Unerreichbarkeit Gottes in Gestalt des Engels bei ihr ein: „Du
Begnadete!“ Und sie erschrickt.


Ich stelle mir vor, ich nähme eine solche Zusage von
Ich-weiß-nicht-wo wahr. Ich würde fragen: Was heißt hier
begnadet? Was weißt Du, was ich nicht weiß?


Und ich würde mich erinnern an das, womit ich „begnadet“ wurde:
An das, was ich geschenkt bekam, ohne es verdient zu haben. An
das, was ich bin, ohne mich entschieden oder es gemacht zu haben.
Und schließlich an das, was zu entscheiden und zu tun, zu lernen
und zu bauen mir ermöglicht und erlaubt wurde. „Du Begnadeter!“
Und dann würde ich an das denken, was schon da ist, was ich aber
noch nicht erkannt und angenommen habe. An den Schatz im Acker,
der noch nicht gehoben ist und darauf wartet, gefunden und
gehoben zu werden.


„Der Herr ist mit dir.“ Das ist er. Der ungehobene Schatz. Alles,
woran ich mich gerade erinnerte, war Gabe. Jetzt aber heißt es
vom Geber, dass er bei mir, in mir, mit mir ist. Auf meiner
Seite. Nicht gegen die Anderen, mit denen ich mich
auseinandersetze. (Irritierenderweise ist er ja auch „mit
ihnen“.) Sondern in mir mit mir. Auch da, wo ich gegen mich
selber bin, oder gegen meine Seele, gegen das, was ich von Gott
her bin. Gott kommt auf meine Seite in mir. Und er überwindet mit
mir, was ich nicht bin – auch wenn ich es krampfhaft zu sein
versucht habe.


„Der Herr ist mit dir.“ Und zwar nicht nur in einem
geistig-intellektuellen beziehungsweise geistlich-spirituellen
Sinn. Sondern leiblich und anfassbar, sichtbar und hörbar,
verständlich und zugleich unbegreiflich. Denn als Kind ist er
kleiner und als Gott unvergleichlich, unendlich größer als ich.


Weihnachten heißt: Was in Maria geschieht, geschieht für uns.
Gott wird ein Mensch. Und was für uns geschieht, soll in uns
geschehen. Der in Maria Mensch gewordene Gott tritt in unser
Leben ein, um „Immanuel“ – „Gott mit uns“ zu sein – damit auch
wir selbst wieder bei uns, mit uns und in uns sind – und mit Gott
für die Anderen.


„Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir.“ Der Advent ist
dieses Jahr kurz. Heute Abend schon beginnt das Weihnachtsfest.
Wie gut, dass wir noch ein Leben lang Zeit haben, um zu
überlegen, „was dieser Gruß zu bedeuten habe.“


Fra' Georg Lengerke

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