Ernten und geerntet werden. Über den Dank als Wesenszug des Christlichen

Ernten und geerntet werden. Über den Dank als Wesenszug des Christlichen

24 Minuten

Beschreibung

vor 2 Jahren

In vielen Gemeinden wird heute Erntedank gefeiert. Beim Erntedank
muss ich spontan an zweierlei denken: an Fülle und an
Verlegenheit.


An Fülle, weil ich als Kind vom Land mit Erntedank kunstvoll
drapierte Berge von Früchten und Gemüse verbinde. Von Ähren und
Blumen, Wein in Trauben und Flaschen, manchmal sogar von Fisch
und Wild. Diese Bilder natürlichen, überbordenden Reichtums haben
sich mir tief eingeprägt.


Und an Verlegenheit muss ich denken. Denn, wenn ich ehrlich bin,
ist mir früher das Danken nicht immer leichtgefallen. – Aber
offenbar geht es auch anderen so. Das Gefühl von Ungenügen beim
Dank hat es sogar bis in die klassische Kirchenmusik geschafft:
Die sogenannte „Deutsche Messe“ von Franz Schubert aus dem Jahr
1826 ist in katholischen Gottesdiensten noch immer sehr beliebt.
Beim Gesang zur Bereitung der Gaben von Brot und Wein für das
Abendmahl gibt es allerdings eine Stelle, bei der ich immer
stocke, da heißt es:


„Du gabst, o Herr, mir Sein und Leben,
und Deiner Lehre himmlisch' Licht.
Was kann dafür ich Staub Dir geben?
Nur danken kann ich, mehr doch nicht.“ 


Ich stocke nicht so sehr wegen der Sache mit dem Staub, der ich
angeblich bin. Dazu kommen wir später nochmal. Nein, ich stocke,
weil da einer feststellt, dass er nicht „mehr“ tun kann als
danken. Was soll das denn sein: mehr als danken? Und ist danken
dann weniger? Weniger als was?


Mir scheint, dass das Unbehagen darüber, nicht mehr tun zu
können, als zu danken, ziemlich weit verbreitet ist. Bloßer Dank
scheint als Reaktion auf einen Gefallen etwas wenig zu sein.
Erwartet der andere vielleicht mehr? Und stehe ich jetzt nicht
irgendwie in seiner Schuld? Hat er bei mir jetzt etwas gut?


Bei solchen Gedanken geschieht etwas Unheimliches: Aus einem
Geschenk wird ein Geschäft.


Dabei danken wir doch für das, was wir geschenkt bekommen, für
das, was „gratis“ ist (also: „aus Wohlwollen“). Für das, was
umsonst ist, aber nicht vergeblich – ohne Gegenleistung, aber
nicht folgenlos.


Ich habe das erst lernen müssen, mir die Freundlichkeit und Güte
von Menschen gefallen zu lassen. Es waren Freunde und Verwandte,
die mich das gelehrt haben, geliebte oder bekannte Menschen. Und
es war meine vielleicht nur anfängliche Erfahrung von Krankheit
und Not, die mich die Dankbarkeit gelehrt haben. Und die
Erinnerung in bösen Tagen, wie kostbar das ist, was ich in guten
Tagen für selbstverständlich hielt.


Dankbarkeit ist nicht nur eine Frage guten Benehmens. (Ich muss
daran denken, wie viele Kinder die mahnende Frage „Was sagt man?“
sekundenschnell mit „Danke!“ beantworten.) Dankbarkeit ist vor
allem auch eine bestimmte Perspektive auf die Welt. Sie ist eine
Weise, die Dinge und Menschen zu sehen. Wer dankbar ist, für den
hat die Welt Geschenkcharakter. Für den dankbaren Menschen werden
Dinge zu Gaben, Fähigkeiten zu Begabungen und Umstände zu
Gegebenheiten.


In vielen Gemeinden wird heute ein Dankfest gefeiert. Ein
Dankfest für die Ernte. „Ernte“ kann vieles sein: Zuerst besteht
die Ernte in dem, was andere für uns geerntet haben, damit wir
leben können. Dann ist Ernte auch das, was wir selbst gesät und
geerntet haben – nicht nur in Feld und Garten, sondern auch in
unseren Tätigkeiten und Berufen, in unseren Beziehungen und
unserer Weise mit uns selbst und anderen umzugehen. Und
schließlich geht es bei der Ernte auch um die Ernte unseres
Lebens. Um das, was wir sein werden, wenn wir einmal nicht mehr
ernten, sondern geerntet werden, um nach Hause zu kommen.


(Dieser Beitrag wurde am 02.10.2022 im Deutschlandfunk gesendet.
Der gesamte Text ist auf www.betdenkzettel.de abrufbar.)

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