Meine späte Ankunft an der Krippe, Deutschlandfunk 29. Dezember 2021

Meine späte Ankunft an der Krippe, Deutschlandfunk 29. Dezember 2021

4 Minuten

Beschreibung

vor 3 Jahren

Ich erinnere mich noch genau, an welcher Stelle auf der Heimfahrt
das Telefon klingelte. Es war der 22. Dezember 2016, zwei Tage
vor Weihnachten. Wir hatten in die Malteserkommende Ehreshoven
Gäste eingeladen, die Weihnachten sonst allein hätten feiern
müssen. Wir waren gut vorbereitet. Dann kam der Anruf. Der Arzt
am anderen Ende der Leitung kam schnell zur Sache: „Ich habe
keine guten Neuigkeiten. Sie haben Krebs.“ Dann erklärte er mir,
in welchem Stadium der sich befände und was mögliche nächste
Schritte seien. „Kommen Sie doch am 2. Januar zu mir, dann planen
wir den weiteren Weg.“


Wir waren gut auf Weihnachten vorbereitet. Aber darauf nicht. Auf
solche Nachrichten kann man sich nicht vorbereiten. Und ich weiß
jetzt, was Menschen meinen, wenn sie sagen, dass sie nach
schockierenden Botschaften alles nur noch wie durch Watte
wahrgenommen haben. So ging es mir auch. Zuhause angekommen,
erzählte ich der befreundeten Kollegin davon, mit der ich das
Weihnachtsfest ausrichtete und die sich bereits um die ersten
Gäste kümmerte.


Am Tag drauf telefonierte ich mit einer alten Franziskanerin. Und
die sagte mir ein Wort des heiligen Franziskus über Weihnachten
und die Geburt Jesu: „Er kommt in das Fleisch unserer
Zerbrechlichkeit.“ Dieses Wort traf mich wie kein anderes in
jener Zeit. Es sollte mich bis heute nicht mehr loslassen.
Wörtlich schreibt Franziskus: „Aus dem Schoß [der Jungfrau Maria]
hat er das wirkliche Fleisch unserer Menschlichkeit und
Gebrechlichkeit angenommen.“


Noch nie hatte ich meine Gebrechlichkeit und Sterblichkeit
derartig brutal und bedrohlich vor Augen geführt bekommen wie
unmittelbar vor diesem Weihnachtsfest. Und jetzt wurde mir
gesagt: Weihnachten handelt gar nicht von großen Gefühlen oder
vom idealen Leben. Weihnachten handelt davon, dass Gott als
Mensch Deine Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit zu seiner macht.


Ich hatte zunächst nur meinen Allernächsten von der Diagnose
erzählt. Auch während der Feier der Heiligen Nacht wusste außer
mir nur die Kollegin von meiner Erkrankung. In der überfüllten
Kapelle saß auch eine Mitarbeiterin der Malteser, die ich gut
kannte und die schon länger sehr tapfer eine Krebsbehandlung
durchmachte. Auch sie wusste noch nicht von meiner Diagnose und
auch nicht, wie nah ich ihr in diesem Moment war. Und ich habe
mich gefragt, welche Hoffnungen Menschen wie sie mit Weihnachten
verbinden: dass wir gesund bleiben oder es bald wieder werden;
dass wir nicht sterben müssen; dass Frieden auf Erden und Freude
in den Herzen wird …


Alle diese Hoffnungen sind gut. Und es sind auch meine. Aber mir
ist an diesem Weihnachtsfest vor allem klar geworden, was uns
Gott alles nicht versprochen hat. Gott hat uns nicht versprochen,
dass wir nicht krank werden und keinen Schmerz erleben, dass wir
keine „bösen Tage“ erleben oder nicht früher oder später sterben
werden.


Was Gott aber sehr wohl versprochen und an Weihnachten wahr
gemacht hat, ist, dass er selbst ein Mensch wird und unser
„Fleisch“, unser gebrechliches und gebrochenes, unser sterbliches
und sterbendes leibliches Leben, zu seinem macht. Gott hat
versprochen, dass wir nichts mehr ohne ihn erleben und erleiden
werden – ja, dass er als Mensch sogar noch unsere Trennung von
Gott zu seiner macht und aufhebt. Und das verändert alles!


Wenn ich seitdem anderen von den Tagen vor Weihnachten 2016
erzähle, höre ich oft: „Wie schrecklich! Das muss dir ja das
ganze Weihnachtsfest verhagelt haben.“ Aber das Gegenteil ist
wahr.


Ich erinnere mich noch genau, an welcher Stelle auf der Heimfahrt
das Telefon klingelte. Bis heute ist dies die Stelle, an der mit
einem Todesschrecken jenes Weinachtsfest seinen Anfang nahm, an
dem ich endlich – mit Ende Vierzig – begonnen hatte, beim Kind in
der Krippe anzukommen.


Fra' Georg Lengerke


Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 29.12.2021 als Morgenandacht im
Deutschlandfunk gesendet.

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