Next Book Please: Die wichtigsten Neuerscheinungen
Abendblatt-Redakteur Thomas Andre und Literaturhaus-Chef Rainer
Moritz besprechen aktuelle Bestseller.
39 Minuten
Podcast
Podcaster
Der Literaturpodcast von Hamburger Abendblatt und dem Literaturhaus Hamburg
Beschreibung
vor 5 Jahren
Die Epoche des Bergbaus ist vorbei. Der französische Schriftsteller
Sorj Chalandon setzt ihm in seinem aktuellen Roman „Am Tag davor“
ein Denkmal. Aber eines, von dem keinerlei Glanz ausgeht: Im
Zentrum der Handlung steht das Grubenunglück am 27. Dezember 1974
in Nordfrankreich, in der Nähe von Lens, in der Zeche Saint-Amé.
Damals starben 42 Kumpel. Der Erzähler des Romans war 14 Jahre alt,
als sein Bruder zu Tode kam. „Räche uns an der Zeche“ lautet der
Auftrag des Vaters im Abschiedsbrief an den überlebenden Sohn:
Dieser Vater bringt sich infolge des Sohnestodes um. Ehe es zu
überraschenden Wendungen kommt, ist der Roman ein eindringliches,
trauriges Stück Bewältigungstherapie. 40 Jahre nach dem Unglück
landet der nun längst erwachsene Erzähler im Gefängnis und vor
Gericht. Dabei war er ja sein ganzes Leben schon im Gefängnis, aber
wie tief die Schuldproblematik ist, in der er gefangen ist,
offenbart sich erst jetzt. Ein erstaunliches, fesselndes Buch, da
sind sich Literaturhaus-Chef Rainer Moritz und Abendblatt-Redakteur
Thomas Andre in der neuen Folge des Literatur-Podcasts Next Book
Please einig. In jener besprechen die beiden Kritiker auch den
ersten Roman der Waliserin Carys Davies. „West“ ist eine
Beschwörung des uramerikanischen Mythos vom Zug nach Westen, in die
Freiheit. Zugleich erinnert der schmale und dichte Roman an die
Ursünde des kolonisierten Kontinents, der seine Ureinwohner
entwurzelte. Der Farmer und Maultierzüchter Bellman, verwitwet,
eine zehnjährige Tochter, bricht im Jahr 1815 in Pennsylvania auf,
um zu Pferde tausende Meilen weit nach Westen zu ziehen. Er hat
etwas gelesen: In Kentucky seien die Überreste von mythischen Wesen
gefunden worden, von Urtieren, Riesenungetümen. Das lässt ihn nicht
los. Er muss los, diese Wesen finden. „West“ ist das überzeugende
Werk einer bislang als Shortstory-Erzählerin in Erscheinung
getretenen Autorin, das erzählökonomisch und sprachlich reduziert
eine im Grunde gewaltige Geschichte erzählt: Diejenige von der
Suche als Lebensantrieb, dem Getriebensein, dem Brennen für eine
Idee, dem Aussteigen aus dem alltäglichen Leben, der Sehnsucht nach
etwas anderem. Dieser Roman, ein Stück klassisches
Literatur-Americana, handelt von den Legenden und
Ursprungsgeschichten jenes Kontinents. Die Amerikanerin Rachel
Kushner erzählt in ihrem neuen Roman „Ich bin ein Schicksal“ von
der verurteilten Mörderin Romy Hall. Weite Strecken des Buchs
spielen im Gefängnis, in dem es rau zugeht und, die meisten sitzen
lebenslängliche Haftstrafen ab, eine Atmosphäre der
Hoffnungslosigkeit herrscht. Etliche originelle Figuren bevölkern
die Story, in der sich in vielen Rückblenden das Leben Romys
entblättert. Das Gefängnismilieu wird in grellen Farben gezeichnet,
am Ende jedoch franst die Geschichte etwas aus - was das angeht,
unterscheidet sich das Urteil der beiden Kritiker nicht. Ebenfalls
kürzlich erschienen ist ein weiterer Titel des Rowohlt-Verlags:
„Langsame Jahre“ von Fernando Aramburu. Dessen großes
Spanien-Panorama „Patria“ war auch in Deutschland ein Bestseller.
„Langsame Jahre“ ist im Original bereits 2012 erschienen. Der Roman
ist leichter, heller als „Patria“ – und doch klingen in ihm die
gleichen Themen an. Es geht um die Epoche der ETA, um den
bewaffneten Kampf der baskischen Separatisten, um die
Loyalitätsfalle, in die jeder Baske damals zu tappen drohte. Der
Ich-Erzähler wird nach der Scheidung der Eltern als Achtjähriger
zur Verwandtschaft nach San Sebastian geschickt. Dort erlebt er,
wie sein Cousin Julen für die ETA rekrutiert wird und wie seine
Cousine für eine ganz andere Form von (persönlicher) Freiheit
kämpft. Ein kleines, skizzenhaftes Sittengemälde der ausgehenden
1960er-Jahre.
Sorj Chalandon setzt ihm in seinem aktuellen Roman „Am Tag davor“
ein Denkmal. Aber eines, von dem keinerlei Glanz ausgeht: Im
Zentrum der Handlung steht das Grubenunglück am 27. Dezember 1974
in Nordfrankreich, in der Nähe von Lens, in der Zeche Saint-Amé.
Damals starben 42 Kumpel. Der Erzähler des Romans war 14 Jahre alt,
als sein Bruder zu Tode kam. „Räche uns an der Zeche“ lautet der
Auftrag des Vaters im Abschiedsbrief an den überlebenden Sohn:
Dieser Vater bringt sich infolge des Sohnestodes um. Ehe es zu
überraschenden Wendungen kommt, ist der Roman ein eindringliches,
trauriges Stück Bewältigungstherapie. 40 Jahre nach dem Unglück
landet der nun längst erwachsene Erzähler im Gefängnis und vor
Gericht. Dabei war er ja sein ganzes Leben schon im Gefängnis, aber
wie tief die Schuldproblematik ist, in der er gefangen ist,
offenbart sich erst jetzt. Ein erstaunliches, fesselndes Buch, da
sind sich Literaturhaus-Chef Rainer Moritz und Abendblatt-Redakteur
Thomas Andre in der neuen Folge des Literatur-Podcasts Next Book
Please einig. In jener besprechen die beiden Kritiker auch den
ersten Roman der Waliserin Carys Davies. „West“ ist eine
Beschwörung des uramerikanischen Mythos vom Zug nach Westen, in die
Freiheit. Zugleich erinnert der schmale und dichte Roman an die
Ursünde des kolonisierten Kontinents, der seine Ureinwohner
entwurzelte. Der Farmer und Maultierzüchter Bellman, verwitwet,
eine zehnjährige Tochter, bricht im Jahr 1815 in Pennsylvania auf,
um zu Pferde tausende Meilen weit nach Westen zu ziehen. Er hat
etwas gelesen: In Kentucky seien die Überreste von mythischen Wesen
gefunden worden, von Urtieren, Riesenungetümen. Das lässt ihn nicht
los. Er muss los, diese Wesen finden. „West“ ist das überzeugende
Werk einer bislang als Shortstory-Erzählerin in Erscheinung
getretenen Autorin, das erzählökonomisch und sprachlich reduziert
eine im Grunde gewaltige Geschichte erzählt: Diejenige von der
Suche als Lebensantrieb, dem Getriebensein, dem Brennen für eine
Idee, dem Aussteigen aus dem alltäglichen Leben, der Sehnsucht nach
etwas anderem. Dieser Roman, ein Stück klassisches
Literatur-Americana, handelt von den Legenden und
Ursprungsgeschichten jenes Kontinents. Die Amerikanerin Rachel
Kushner erzählt in ihrem neuen Roman „Ich bin ein Schicksal“ von
der verurteilten Mörderin Romy Hall. Weite Strecken des Buchs
spielen im Gefängnis, in dem es rau zugeht und, die meisten sitzen
lebenslängliche Haftstrafen ab, eine Atmosphäre der
Hoffnungslosigkeit herrscht. Etliche originelle Figuren bevölkern
die Story, in der sich in vielen Rückblenden das Leben Romys
entblättert. Das Gefängnismilieu wird in grellen Farben gezeichnet,
am Ende jedoch franst die Geschichte etwas aus - was das angeht,
unterscheidet sich das Urteil der beiden Kritiker nicht. Ebenfalls
kürzlich erschienen ist ein weiterer Titel des Rowohlt-Verlags:
„Langsame Jahre“ von Fernando Aramburu. Dessen großes
Spanien-Panorama „Patria“ war auch in Deutschland ein Bestseller.
„Langsame Jahre“ ist im Original bereits 2012 erschienen. Der Roman
ist leichter, heller als „Patria“ – und doch klingen in ihm die
gleichen Themen an. Es geht um die Epoche der ETA, um den
bewaffneten Kampf der baskischen Separatisten, um die
Loyalitätsfalle, in die jeder Baske damals zu tappen drohte. Der
Ich-Erzähler wird nach der Scheidung der Eltern als Achtjähriger
zur Verwandtschaft nach San Sebastian geschickt. Dort erlebt er,
wie sein Cousin Julen für die ETA rekrutiert wird und wie seine
Cousine für eine ganz andere Form von (persönlicher) Freiheit
kämpft. Ein kleines, skizzenhaftes Sittengemälde der ausgehenden
1960er-Jahre.
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