Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener zum Welttag der Suizidprävention am 10. September

Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener zum Welttag der Suizidprävention am 10. September

Beschreibung

vor 7 Jahren
Zum Welttag der Suizidprävention Warum wollen Menschen sterben? Die
öffentliche Diskussion über Suizid wird in Deutschland von
Psychiatern dominiert. Diese wollen uns glauben machen, es gäbe
eine einfache Antwort auf die Frage, warum Menschen sich
suizidieren: Suizide seien zu 90% auf „psychische Erkrankungen“
zurückzuführen [1, 2]. Solche Rhetorik ist geeignet, Politiker
unter Zugzwang zu setzen und Geld für Einrichtungen, Modellprojekte
und Suizidforschung zu erpressen. Aussagen, die meisten Suizide
gingen auf „psychische Erkrankungen“ zurück, stützen sich auf so
genannte psychiatrische Autopsiestudien, bei denen rückblickend
versucht wird, bei durch Suizid Verstorbenen Symptome einer Störung
nachzuweisen [3]. Die Validität solcher rückwirkend gestellten
Diagnosen ist mehr als fraglich. Außerdem gehen Psychiater damit
der Frage aus dem Weg, welche konkrete Behandlung vor dem Suizid
stattgefunden hat und der Frage, warum der einzelne Mensch sich
getötet hat. Klar belegt ist, dass Menschen, die unter widrigen
Lebensumständen leiden, sich eher umbringen: Alter und Krankheit
[4, 5], Armut und soziale Zersplitterung [6, 7], Einsamkeit [8],
Marginalisierung und Diskriminierung [9, 10] erhöhen das
Suizidrisiko enorm. Antworten des Psychiatrischen Systems auf
Suizidalität Standardmäßig hat die stationäre Psychiatrie zwei
Strategien parat, um mit Suizidgedanken „umzugehen“: Erstens eine
fragliche Risikobeurteilung und zweitens das Einsperren. Der
Versuch, mittels einer Risikobeurteilung Suizide vorherzusagen, ist
zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn man alle bekannten
Risikofaktoren gemeinsam berücksichtigt, ist es nicht möglich,
korrekt vorherzusagen, ob sich jemand umbringen wird [11]. Auch das
Einsperren ist keine evidenzbasierte Methode, um Suizide zu
verhindern: In Kliniken mit geschlossenen Stationen gibt es nicht
weniger Suizide als in Kliniken mit so genannter Open-Door-Policy
[12]. Gängige Praxis ist, dass als suizidgefährdet eingestufte
Menschen auf geschlossenen Stationen untergebracht werden, ohne
dass sie in ihrer Krise begleitet werden. Diese Praxis dient nicht
dem Schutz der Betroffenen, sondern der rechtlichen Absicherung der
Behandler: Es ist für sie unerheblich, ob der Patient/die Patientin
sich umbringt – solange diese Person dabei eingesperrt war, sind
die Behandler abgesichert. Die Menschen, die eingesperrt werden,
merken sehr gut, dass die Behandler nicht an ihnen und ihrem Leben
interessiert sind. Behandlungsbedingte Suizide Als
Betroffenenverband mit über 20jähriger Erfahrung in Selbsthilfe und
Beratung wissen wir, dass die auf psychiatrischen Stationen erlebte
körperliche und seelische Gewalt zur Selbsttötungsbereitschaft
beiträgt oder diese erst auslöst. Eine dänische Bevölkerungsstudie
[13] fand einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychiatrischer
Behandlung und Suiziden: Personen, die Psychopharmaka einnahmen,
töten sich 6-mal so häufig wie nicht Behandelte. Personen, die
ambulant psychiatrisch behandelt wurden, töten sich 8-mal so häufig
wie nicht Behandelte. Personen, die einen stationären Aufenthalt
hinter sich haben, töten sich 44-mal so häufig wie nicht
Behandelte. Das zeigt, dass psychiatrische Maßnahmen mindestens
sehr schlecht darin sind, Suizide zu verhindern. Es wirft auch die
Frage auf, ob die Behandlung selbst Suizide verursacht.
Wissenschaftler haben bereits darauf hingewiesen, dass
psychiatrische Behandlung, insbesondere Hospitalisierung, Menschen
suizidal machen kann [14, 15]. Dafür spricht auch, dass Suizidraten
auf psychiatrischen Stationen extrem hoch sind und sich enorm
zwischen Einrichtungen unterscheiden [16]. Neben der in der
Psychiatrie erfahrenen Gewalt können auch die eingesetzten Pharmaka
zu Selbsttötungen beitragen. Das gilt sowohl für Antidepressiva als
auch für Neuroleptika. Suizid durch Antidepressiva Die Liste
dokumentierter Suizide unter Behandlung mit SSRI ist mittlerweile
unerschöpflich [17]. Für eine wissenschaftliche Beurteilung des
Suizidrisikos unter Antidepressiva stellt die Industrie allerdings
bis heute keine ausreichenden Daten zur Verfügung [18]. Das erhöhte
Suizidrisiko für Kinder und Jugendliche unter Antidepressiva wird
mittlerweile nicht mehr geleugnet [ebd.]. Ebenso geben Psychiater
heute zu, dass bei Erwachsenen zu Behandlungsbeginn Selbsttötungen
wahrscheinlicher werden – selbst bei Patienten, die vor der
Behandlung nicht suizidal waren [19]. Suizid durch Neuroleptika
Seit Einführung der Neuroleptika weisen Betroffene und Psychiater
darauf hin, dass diese, insbesondere in Depotform, depressiv machen
und Suizidgedanken auslösen können [20]. Ein Vergleich der
Suizidraten „schizophrener“ Patienten um 1900 und in den 1990er
Jahren zeigte, dass sich diese Menschen nach der Einführung der
Neuroleptika 20mal so häufig suizidieren [21]. Diese Entwicklung
ist umso drastischer vor dem Hintergrund, dass Menschen mit diesen
Substanzen zwangsbehandelt werden. Was hilft Menschen in suizidalen
Krisen? In Deutschland überleben jährlich mindestens 100.000
Menschen einen Suizidversuch [22]. Knapp 10% denken mindestens
einmal in ihrem Leben ernsthaft über Suizid nach [23]. Die
Erfahrungsexpertise dieser Millionen Menschen blieb bislang völlig
ungenutzt. Sie können am besten sagen, was in einer suizidalen
Krise hilfreich ist. Menschen werden suizidal, wenn ihr Leben
unerträglich ist und sie nicht die Hoffnung haben, etwas daran
ändern zu können [24]. Viele Überlebende von (chronischer)
Suizidalität berichten zurückblickend, dass ihnen am meisten
geholfen hat, wenn Freunde, HelferInnen zugehört und sie
unterstützt haben, ihr Leben attraktiver zu gestalten und zur
Neugier auf Neues zurückzufinden [25, 26]. Wichtig ist, dass
Menschen über ihre Suizidgedanken sprechen können. Wir brauchen
daher Räume, in denen dies möglich ist, ohne pathologisiert,
eingesperrt oder behandelt zu werden. Fünf Forderungen 1.
Einführung eines nationalen Suizidregisters, das vorangegangene
psychiatrische Behandlungen bis zu einem Jahr rückwirkend erfasst.
2. Auch psychiatrische Akutstationen sind grundsätzlich offen zu
führen. 3. PatientInnen und ihre Angehörigen sind über die
suizidfördernden Wirkungen von Psychopharmaka mündlich und
schriftlich aufzuklären. 4. Der Fokus von Suizidprävention muss
verschoben werden. Die Millionensummen, die für psychiatrische
Versorgung und Forschung ausgegeben werden, sind besser bei den
Betroffenen selbst aufgehoben und sollten dazu vor allem eingesetzt
werden, soziale Ungleichheit abzubauen. 5. Finanzielle und ideelle
Förderung nicht-medizinischer Projekte und Anlaufstellen,
insbesondere solchen, die von Betroffenen/Erfahrenen geleitet
werden. Anhang: Literatur 1 Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Depression und Suizidalität. Im Internet:
www.deutsche-depressionshilfe.de​/​stiftung/​depression-und-suizidalitaet.php;
Stand: 7.3.2017 2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und
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