\'Hilfe\', \'Schutz\' und \'Anti-Stigma\' - Propaganda und \'Neusprech\' in der Psychiatrie (Teil 1)
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Beschreibung
vor 8 Jahren
Anstaltspsychiatrie, Zwangsjacken oder Elektroschock sind Begriffe,
die einer dunklen, scheinbar überwundenen Vergangenheit der
Psychiatrie zugeschrieben werden. Dass der Elektroschock unter der
Bezeichnung EKT (Elektrokrampftherapie) seit einigen Jahren
zunehmend wieder eingesetzt wird, dass die Zwangsjacken lediglich
durch die Verabreichung von Psychopharmaka abgelöst wurden und dass
Zwangsmaßnahmen und -Behandlungen weiterhin an der Tagesordnung
sind, ist vielen Menschen nicht bewußt. Vor 40 Jahren sollte mit
der Psychiatrie-Enquete eine „tiefgreifende Reform der Psychiatrie“
auf den Weg gebracht werden - an den fragwürdigen Grundlagen des
psychiatrischen Menschenbildes hat sich jedoch wenig geändert. Das
Konzept der "psychischen Erkrankungen“ wird kaum hinterfragt. Dabei
werden immer mehr Menschen psychiatrisch behandelt. Die Zahl der
Krankschreibungen und Früh-Berentungen aufgrund psychiatrischer
Diagnosen und auch die Verschreibung von Psychopharmaka haben
Rekordniveau erreicht. Im Geschäft mit der Psyche werden
Milliardenumsätze erzielt. Worüber jedoch kaum jemand spricht: Über
10.000 Menschen kommen jährlich allein in Deutschland im
Zusammenhang mit psychiatrischer Behandlung ums Leben. Die
Langzeitbehandlung mit Neuroleptika (im psychiatrischen Neusprech
auch "Antipsychotika" genannt) führt zu einer Verkürzung der
Lebenserwartung um durschnittlich 25 bis 32 Jahre. Zunehmend werden
auch Kinder und Jugendliche zu psychiatrischen Patienten - häufig
wegen Problemen, die im Zusammenhang mit der Schule entstehen.
Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Die Begriffe, die wir
verwenden, beeinflussen unsere Einstellung und unsere Gefühle. Es
macht einen Unterschied, wie wir die Dinge bezeichnen. Und es ist
kein Zufall, dass sich viele Namen und Bezeichnungen in den
vergangenen Jahren (zum Teil mehrfach hintereinander) geändert
haben. Halt! Die Namen haben sich nicht von alleine geändert – sie
wurden geändert. Raider heißt jetzt Twix. Das Arbeitsamt ist von
der Agentur für Arbeit zum Jobcenter mutiert. Meine Krankenkasse
nennt sich jetzt Gesundheitskasse. So sollen Akzeptanz hergestellt
und positive Assoziationen hervorgerufen werden. Das kleine
Wörtchen 'für' kann sehr wirkungsvoll sein für solche Zwecke. Die
ehemaligen Nervenheilanstalten heißen inzwischen „Zentren für
Psychiatrie“ – oder noch besser: „Zentren für Seelische
Gesundheit“. Statt auf der Geschlossenen finden wir uns im
„geschützten Bereich“ wieder. Dort wird uns „die notwendige Hilfe
nicht vorenthalten“. Das klingt zumindest viel angenehmer, als von
„einsperren“ und „isolieren“ zu sprechen, von „Zwangsbehandeln“
oder vom Brechen des Willens. Was in der Psychiatrie mit „Schutz“
und „Hilfe“ bezeichnet wird, könnten wir aus anderer Perspektive
auch „Freiheitsberaubung“ und „Folter“(2) nennen. Wir werden ans
Bett gefesselt und es werden uns mit Gewalt Substanzen verabreicht,
die massive Störungen (nicht nur) im Gehirn verursachen. Natürlich
nur zu unserem „Wohl“ und weil wir „krankheitsbedingt“ nicht in der
Lage seien, in die „notwendige Behandlung“ einzuwilligen. Wie
fragwürdig die Konzepte der psychiatrischen „Erkrankungen“ und
deren Behandlung sind, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin: wir
werden nicht mehr als „Geisteskranke“ bezeichnet. Inzwischen werden
wir mit dem Label „Psychisch Kranke“ bedacht, das in jüngerer Zeit
zunehmend durch den Begriff „Menschen mit psychischen Erkrankungen“
ersetzt wird. Das klingt zwar schon viel menschlicher, verschleiert
aber den Umstand, dass diese sogenannten „Erkrankungen“ keine
beweisbaren Tatsachen sondern lediglich willkürliche Zuschreibungen
sind.(3) Den Mangel an Beweisen machen die Meinungsbildner in der
Psychiatrie wett durch in sich verschachtelte Konstrukte aus
Behauptungen und Zirkelschlüssen gepaart mit ausgefeilter Rhetorik.
Der „Mythos Geisteskrankheit“(4) wird uns tagtäglich quer durch
sämtliche Medien als Tatsachenbehauptung untergejubelt. Wir haben
uns gewöhnt an die Propaganda. An die Lügen und Halbwahrheiten, an
das Verschweigen und Vorenthalten von Information. Manche Märchen
werden so oft wiederholt, dass es aussichtslos erscheint, jedes mal
von Neuem auf Richtigstellung zu pochen. Die Medienvertreter*innen
sind auch nur zu gerne bereit, zu glauben, was sogenannte Fachleute
ihnen einreden. Wir wissen, dass es um Geld geht. Um sehr viel
Geld. Die Pharma-Industrie macht Milliardenumsätze mit
Psychopharmaka. Wir wissen auch, dass z.B. die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) und auch viele ihrer Mitglieder mehr als dankbar sind für
die finanziellen Zuwendungen, die sie von der Industrie erhalten.
Sehr ärgerlich ist jedoch, dass für die Finanzierung der
Propagandakampagnen der DGPPN das Bundesministerium für Gesundheit
aufkommt. Und dass sich über 80 Organisationen dafür hergeben diese
Kampagnen mit ihrem Namen mitzutragen. Folgende Sätze lesen sich
wie ein geschickt formulierter Werbetext, den eine PR-Agentur im
Auftrag von Pharma-Unternehmen verfasst haben könnte:
Psychopharmaka wirken aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und
Handeln. „Doch sie verändern nicht die Persönlichkeit, sondern
bekämpfen die Symptome, die bei den Patienten einen hohen
Leidensdruck verursachen“, erklärt Dr. Iris Hauth, Präsidentin der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie stellen nicht ruhig,
sondern setzen an den biologischen Ursachen der Erkrankung an,
indem sie einen Mangel oder Überschuss von bestimmten Botenstoffen
im Gehirn (Neurotransmitter) regulieren. Und die meisten
Medikamente – allen voran die beiden Hauptgruppen Antidepressiva
und Antipsychotika (s. Teil VI) – machen auch nach jahre- oder
jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig. Tatsächlich stammt dieser
Text vom „Aktionsbündnis Seelische Gesundheit“, das vor 10 Jahren
„von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit Open the
doors als Partner des internationalen Antistigma-Programms“
initiiert wurde, wie auf der Startseite zu lesen ist. Die
Unterseite „fairmedia“ gibt Journalist*innen Empfehlungen, wie „ein
angemessenes Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den
Medien“ entstehen soll. Für die Gestaltung der Seiten ist - wen
wundert´s - eine Werbefirma aus Berlin verantwortlich.
Unverantwortlich ist allerdings der Inhalt (nicht nur) dieser hier
zitierten Behauptungen. Es ist wahr, dass Psychopharmaka aufs
Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln wirken. Die Wirkung
beschränkt sich jedoch nicht aufs Gehirn. Je nach Substanz müssen
wir mit massiven körperlichen 'Neben'-Wirkungen rechnen. Ob
Gewichtszunahme, Diabetes, Libidoverlust und Impotenz,
Blutbildveränderungen, Herz- und Kreislaufprobleme,
Bewegungsstörungen oder gar plötzlicher Tod: die Liste
unerwünschter Wirkungen ist lang. Seit Jahren ist bekannt, dass
Konsumenten von Neuroleptika bei Langzeiteinnahme mit einer
Verkürzung der Lebenserwartung um 25 bis 32 Jahre rechnen
müssen.(5) Die Wirkung von Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen,
Erleben und Handeln lässt sich im Einzelfall auch kaum vorhersagen.
Immerhin handelt es sich um Stoffe, die die Hirnchemie verändern
und dadurch in die Persönlichkeit eingreifen. Jedes Gehirn ist
anders, und welche Substanz in welcher Dosierung welche Effekte
hat, wird von Person zu Person neu durchprobiert. Die Behauptung,
dass die Persönlichkeit unverändert bliebe, trotz erheblicher
Veränderung von Erleben, Fühlen und Handeln, lässt sich meines
Wissens nicht belegen. Wer jedoch in Fachliteratur und Studien nach
persönlichkeitsverändernden Wirkungen sowohl von Antidepressiva als
auch insbesondere von Neuroleptika sucht, kann an vielen Stellen
fündig werden(6). Psychopharmaka werden in der Tat eingesetzt um
Symptome zu bekämpfen. Wie erfolgreich diese Symptombehandlung im
Einzelfall ist, lässt sich nicht vorhersagen. Studien mit
Antidepressiva vom Typ SSRI haben zum Beispiel gezeigt, dass diese
Mittel sich in der Wirksamkeit kaum von Placebos unterscheiden.(7)
Im Gegensatz zu Placebos muss mit einer ausgeprägten
Absetzsymptomatik gerechnet werden, wenn die Einnahme dieser Mittel
beendet wird. Die These, psychische Ausnahmezustände („Störungen“,
„Erkrankungen“) seien auf ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im
Gehirn zurückzuführen, nutzt vor allem denen, die daran verdienen.
Weder der Überschuss noch der Mangel an Botenstoffen lässt sich als
Ursache von Störungen nachweisen. Bezeichnend ist, dass vor allem
jene Behandlungsformen nachhaltige Ergebnisse erzielen, die ohne
oder mit möglichst wenig Psychopharmaka-Einsatz auskommen. Die
dreisteste Lüge ist hier jedoch die Behauptung, dass Psychopharmaka
nicht abhängig machen. „Jedes Psychopharmakon kann Entzugssymptome
produzieren. Dies geschieht zum Teil, weil das Gehirn sich an das
Psychopharmakon anpasst und es in einem abnormal kompensierten
Zustand zurückgelassen wird, wenn die Dosis eines Medikaments
reduziert wird oder das Medikament abgesetzt wird.“ schreibt der
amerikanische Psychiater Peter Breggin(8). Ist es nicht
naheliegend, von Abhängigkeit zu sprechen, wenn wir davon ausgehen
müssen, dass beim Absetzen einer Substanz Probleme auftreten, die
zuvor nicht vorhanden waren? Die Verharmloser*innen der
Psychopharmaka können natürlich einwenden, dass bei einem Großteil
der sogenannten Medikamente nicht sämtliche Kriterien der
WHO-Definition von „Abhängigkeit“ zutreffen, und dass vor diesem
Hintergrund die Behauptung „die meisten Medikamente machen auch
nach jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig“ zwar
irreführend und missverständlich ist, jedoch nicht als Lüge
gewertet werden sollte. Der Vollständigkeit halber sollten wir dann
aber auch anfügen, dass die WHO-Definition von Abhängigkeit im
Jahre 1987 den Erfordernissen des Marktes angepasst wurde – in
Zeiten in denen die Genehmigungsverfahren für die neuen SSRI von
der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) bearbeitet
wurden. Was sollen all diejenigen dazu sagen, die mit ansehen
müssen, oder gar am eigenen Leib erleben, welche Probleme das
Absetzen von Psychopharmaka auslösen kann und mit welchen
Auswirkungen das verbunden ist? Wer warnt verantwortungsvolle
Journalist*innen davor, bei dieser Werbekampagne gegen die
„Stigmatisierung von Medikamenten“ unhinterfragt abzuschreiben?(9)
Wir müssen lernen, die Behauptungen zu hinterfragen, die uns von
denjenigen, die an Behandlung und Hilfe verdienen, als angeblich
sachliche Informationen aufgetischt werden. In einer wirklich
„fairen“ Diskussion müssen auch die unbequemen Tatsachen offen zur
Sprache kommen. Risiken und (Neben-)Wirkungen dürfen nicht weiter
verharmlost werden. Mögliche Schäden müssen dem erhofften Nutzen
gegenübergestellt werden. Als Patienten und Angehörige, aber auch
als interessierte Öffentlichkeit, haben wir das Recht auf
ungeschönte Information. Wir haben das Recht auf informierte
Entscheidung und wollen die Entscheidungen über unsere Gesundheit,
unsere Zukunft und unser Leben nicht nur auf Halbwahrheiten und
Werbelügen stützen. Mirko Ološtiak, Februar 2016 (1) Der Ausdruck
Neusprech (englisch: Newspeak) stammt aus dem Roman 1984 von George
Orwell und bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen
künstlich modifiziert wurde. (…) Neusprech bezeichnet die vom
herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache.
Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das
Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation
des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken... (Wikipedia)
(2) siehe Alice Halmi,
http://www.irrenoffensive.de/foltersystem.htm (3) Neben der
Bezeichnung „Psychiatrie-Erfahrene“ könnten wir hier vielleicht
noch von „Menschen mit psychiatrischen Diagnosen“ sprechen – wenn
denn überhaupt ein Begriff nötig sein sollte, um Menschen zu
benennen, die das psychiatrische „Versorgungs-“-System in Anspruch
nehmen oder diesem ausgesetzt sind. (4) Thomas S. Szasz, 1960 -
http://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html (5)
siehe z.B.:
http://www.bpe-online.de/verband/rundbrief/2007/3/aderhold.htm (6)
siehe z.B.:
http://www.praxis-dr-shaw.de/blog/kann-die-behandlung-von-depressionen-mit-antidepressiva-zu-personlichkeitsveranderungen-fuhren/
(7) siehe auch:
http://patientensicht.ch/artikel/irving-kirsch-moderne-antidepressiva-sind-super-placebos
(8) Breggin, Peter R. (2013):Psychiatric Drug Withdrawal - A guide
for prescribers, therapists, patients, and their families.New
York:Springer Publishing Company (9)
http://fairmedia.seelischegesundheit.net/dossiers: „Der
Themendienst ist Teil des Informationsdienstes des
Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, in dem wir aktuelle
Informationen aus dem Bereich der seelischen Gesundheit
redaktionell zusammenstellen. Die Texte können Sie gerne
übernehmen. Wenn Sie selber etwas zum Thema machen möchten: Bei den
aufgelisteten Initiativen und Verbänden bekommen Sie Informationen
aus erster Hand – von Betroffenen, Angehörigen oder Fachleuten.
Möglich wird dieser Redaktionsdienst durch die Unterstützung des
Bundesministeriums für Gesundheit.“ Stellungnahme der DGSP zum
Pharma-(Werbe-)Dossier der "fairmedia"-Kampagne:
http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/Stellungn._ASG_Prof._Gaebel.pdf"
die einer dunklen, scheinbar überwundenen Vergangenheit der
Psychiatrie zugeschrieben werden. Dass der Elektroschock unter der
Bezeichnung EKT (Elektrokrampftherapie) seit einigen Jahren
zunehmend wieder eingesetzt wird, dass die Zwangsjacken lediglich
durch die Verabreichung von Psychopharmaka abgelöst wurden und dass
Zwangsmaßnahmen und -Behandlungen weiterhin an der Tagesordnung
sind, ist vielen Menschen nicht bewußt. Vor 40 Jahren sollte mit
der Psychiatrie-Enquete eine „tiefgreifende Reform der Psychiatrie“
auf den Weg gebracht werden - an den fragwürdigen Grundlagen des
psychiatrischen Menschenbildes hat sich jedoch wenig geändert. Das
Konzept der "psychischen Erkrankungen“ wird kaum hinterfragt. Dabei
werden immer mehr Menschen psychiatrisch behandelt. Die Zahl der
Krankschreibungen und Früh-Berentungen aufgrund psychiatrischer
Diagnosen und auch die Verschreibung von Psychopharmaka haben
Rekordniveau erreicht. Im Geschäft mit der Psyche werden
Milliardenumsätze erzielt. Worüber jedoch kaum jemand spricht: Über
10.000 Menschen kommen jährlich allein in Deutschland im
Zusammenhang mit psychiatrischer Behandlung ums Leben. Die
Langzeitbehandlung mit Neuroleptika (im psychiatrischen Neusprech
auch "Antipsychotika" genannt) führt zu einer Verkürzung der
Lebenserwartung um durschnittlich 25 bis 32 Jahre. Zunehmend werden
auch Kinder und Jugendliche zu psychiatrischen Patienten - häufig
wegen Problemen, die im Zusammenhang mit der Schule entstehen.
Unsere Sprache bestimmt unser Denken. Die Begriffe, die wir
verwenden, beeinflussen unsere Einstellung und unsere Gefühle. Es
macht einen Unterschied, wie wir die Dinge bezeichnen. Und es ist
kein Zufall, dass sich viele Namen und Bezeichnungen in den
vergangenen Jahren (zum Teil mehrfach hintereinander) geändert
haben. Halt! Die Namen haben sich nicht von alleine geändert – sie
wurden geändert. Raider heißt jetzt Twix. Das Arbeitsamt ist von
der Agentur für Arbeit zum Jobcenter mutiert. Meine Krankenkasse
nennt sich jetzt Gesundheitskasse. So sollen Akzeptanz hergestellt
und positive Assoziationen hervorgerufen werden. Das kleine
Wörtchen 'für' kann sehr wirkungsvoll sein für solche Zwecke. Die
ehemaligen Nervenheilanstalten heißen inzwischen „Zentren für
Psychiatrie“ – oder noch besser: „Zentren für Seelische
Gesundheit“. Statt auf der Geschlossenen finden wir uns im
„geschützten Bereich“ wieder. Dort wird uns „die notwendige Hilfe
nicht vorenthalten“. Das klingt zumindest viel angenehmer, als von
„einsperren“ und „isolieren“ zu sprechen, von „Zwangsbehandeln“
oder vom Brechen des Willens. Was in der Psychiatrie mit „Schutz“
und „Hilfe“ bezeichnet wird, könnten wir aus anderer Perspektive
auch „Freiheitsberaubung“ und „Folter“(2) nennen. Wir werden ans
Bett gefesselt und es werden uns mit Gewalt Substanzen verabreicht,
die massive Störungen (nicht nur) im Gehirn verursachen. Natürlich
nur zu unserem „Wohl“ und weil wir „krankheitsbedingt“ nicht in der
Lage seien, in die „notwendige Behandlung“ einzuwilligen. Wie
fragwürdig die Konzepte der psychiatrischen „Erkrankungen“ und
deren Behandlung sind, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin: wir
werden nicht mehr als „Geisteskranke“ bezeichnet. Inzwischen werden
wir mit dem Label „Psychisch Kranke“ bedacht, das in jüngerer Zeit
zunehmend durch den Begriff „Menschen mit psychischen Erkrankungen“
ersetzt wird. Das klingt zwar schon viel menschlicher, verschleiert
aber den Umstand, dass diese sogenannten „Erkrankungen“ keine
beweisbaren Tatsachen sondern lediglich willkürliche Zuschreibungen
sind.(3) Den Mangel an Beweisen machen die Meinungsbildner in der
Psychiatrie wett durch in sich verschachtelte Konstrukte aus
Behauptungen und Zirkelschlüssen gepaart mit ausgefeilter Rhetorik.
Der „Mythos Geisteskrankheit“(4) wird uns tagtäglich quer durch
sämtliche Medien als Tatsachenbehauptung untergejubelt. Wir haben
uns gewöhnt an die Propaganda. An die Lügen und Halbwahrheiten, an
das Verschweigen und Vorenthalten von Information. Manche Märchen
werden so oft wiederholt, dass es aussichtslos erscheint, jedes mal
von Neuem auf Richtigstellung zu pochen. Die Medienvertreter*innen
sind auch nur zu gerne bereit, zu glauben, was sogenannte Fachleute
ihnen einreden. Wir wissen, dass es um Geld geht. Um sehr viel
Geld. Die Pharma-Industrie macht Milliardenumsätze mit
Psychopharmaka. Wir wissen auch, dass z.B. die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) und auch viele ihrer Mitglieder mehr als dankbar sind für
die finanziellen Zuwendungen, die sie von der Industrie erhalten.
Sehr ärgerlich ist jedoch, dass für die Finanzierung der
Propagandakampagnen der DGPPN das Bundesministerium für Gesundheit
aufkommt. Und dass sich über 80 Organisationen dafür hergeben diese
Kampagnen mit ihrem Namen mitzutragen. Folgende Sätze lesen sich
wie ein geschickt formulierter Werbetext, den eine PR-Agentur im
Auftrag von Pharma-Unternehmen verfasst haben könnte:
Psychopharmaka wirken aufs Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und
Handeln. „Doch sie verändern nicht die Persönlichkeit, sondern
bekämpfen die Symptome, die bei den Patienten einen hohen
Leidensdruck verursachen“, erklärt Dr. Iris Hauth, Präsidentin der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie stellen nicht ruhig,
sondern setzen an den biologischen Ursachen der Erkrankung an,
indem sie einen Mangel oder Überschuss von bestimmten Botenstoffen
im Gehirn (Neurotransmitter) regulieren. Und die meisten
Medikamente – allen voran die beiden Hauptgruppen Antidepressiva
und Antipsychotika (s. Teil VI) – machen auch nach jahre- oder
jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig. Tatsächlich stammt dieser
Text vom „Aktionsbündnis Seelische Gesundheit“, das vor 10 Jahren
„von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit Open the
doors als Partner des internationalen Antistigma-Programms“
initiiert wurde, wie auf der Startseite zu lesen ist. Die
Unterseite „fairmedia“ gibt Journalist*innen Empfehlungen, wie „ein
angemessenes Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den
Medien“ entstehen soll. Für die Gestaltung der Seiten ist - wen
wundert´s - eine Werbefirma aus Berlin verantwortlich.
Unverantwortlich ist allerdings der Inhalt (nicht nur) dieser hier
zitierten Behauptungen. Es ist wahr, dass Psychopharmaka aufs
Gehirn, aufs Fühlen, Erleben und Handeln wirken. Die Wirkung
beschränkt sich jedoch nicht aufs Gehirn. Je nach Substanz müssen
wir mit massiven körperlichen 'Neben'-Wirkungen rechnen. Ob
Gewichtszunahme, Diabetes, Libidoverlust und Impotenz,
Blutbildveränderungen, Herz- und Kreislaufprobleme,
Bewegungsstörungen oder gar plötzlicher Tod: die Liste
unerwünschter Wirkungen ist lang. Seit Jahren ist bekannt, dass
Konsumenten von Neuroleptika bei Langzeiteinnahme mit einer
Verkürzung der Lebenserwartung um 25 bis 32 Jahre rechnen
müssen.(5) Die Wirkung von Psychopharmaka aufs Gehirn, aufs Fühlen,
Erleben und Handeln lässt sich im Einzelfall auch kaum vorhersagen.
Immerhin handelt es sich um Stoffe, die die Hirnchemie verändern
und dadurch in die Persönlichkeit eingreifen. Jedes Gehirn ist
anders, und welche Substanz in welcher Dosierung welche Effekte
hat, wird von Person zu Person neu durchprobiert. Die Behauptung,
dass die Persönlichkeit unverändert bliebe, trotz erheblicher
Veränderung von Erleben, Fühlen und Handeln, lässt sich meines
Wissens nicht belegen. Wer jedoch in Fachliteratur und Studien nach
persönlichkeitsverändernden Wirkungen sowohl von Antidepressiva als
auch insbesondere von Neuroleptika sucht, kann an vielen Stellen
fündig werden(6). Psychopharmaka werden in der Tat eingesetzt um
Symptome zu bekämpfen. Wie erfolgreich diese Symptombehandlung im
Einzelfall ist, lässt sich nicht vorhersagen. Studien mit
Antidepressiva vom Typ SSRI haben zum Beispiel gezeigt, dass diese
Mittel sich in der Wirksamkeit kaum von Placebos unterscheiden.(7)
Im Gegensatz zu Placebos muss mit einer ausgeprägten
Absetzsymptomatik gerechnet werden, wenn die Einnahme dieser Mittel
beendet wird. Die These, psychische Ausnahmezustände („Störungen“,
„Erkrankungen“) seien auf ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im
Gehirn zurückzuführen, nutzt vor allem denen, die daran verdienen.
Weder der Überschuss noch der Mangel an Botenstoffen lässt sich als
Ursache von Störungen nachweisen. Bezeichnend ist, dass vor allem
jene Behandlungsformen nachhaltige Ergebnisse erzielen, die ohne
oder mit möglichst wenig Psychopharmaka-Einsatz auskommen. Die
dreisteste Lüge ist hier jedoch die Behauptung, dass Psychopharmaka
nicht abhängig machen. „Jedes Psychopharmakon kann Entzugssymptome
produzieren. Dies geschieht zum Teil, weil das Gehirn sich an das
Psychopharmakon anpasst und es in einem abnormal kompensierten
Zustand zurückgelassen wird, wenn die Dosis eines Medikaments
reduziert wird oder das Medikament abgesetzt wird.“ schreibt der
amerikanische Psychiater Peter Breggin(8). Ist es nicht
naheliegend, von Abhängigkeit zu sprechen, wenn wir davon ausgehen
müssen, dass beim Absetzen einer Substanz Probleme auftreten, die
zuvor nicht vorhanden waren? Die Verharmloser*innen der
Psychopharmaka können natürlich einwenden, dass bei einem Großteil
der sogenannten Medikamente nicht sämtliche Kriterien der
WHO-Definition von „Abhängigkeit“ zutreffen, und dass vor diesem
Hintergrund die Behauptung „die meisten Medikamente machen auch
nach jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme nicht abhängig“ zwar
irreführend und missverständlich ist, jedoch nicht als Lüge
gewertet werden sollte. Der Vollständigkeit halber sollten wir dann
aber auch anfügen, dass die WHO-Definition von Abhängigkeit im
Jahre 1987 den Erfordernissen des Marktes angepasst wurde – in
Zeiten in denen die Genehmigungsverfahren für die neuen SSRI von
der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) bearbeitet
wurden. Was sollen all diejenigen dazu sagen, die mit ansehen
müssen, oder gar am eigenen Leib erleben, welche Probleme das
Absetzen von Psychopharmaka auslösen kann und mit welchen
Auswirkungen das verbunden ist? Wer warnt verantwortungsvolle
Journalist*innen davor, bei dieser Werbekampagne gegen die
„Stigmatisierung von Medikamenten“ unhinterfragt abzuschreiben?(9)
Wir müssen lernen, die Behauptungen zu hinterfragen, die uns von
denjenigen, die an Behandlung und Hilfe verdienen, als angeblich
sachliche Informationen aufgetischt werden. In einer wirklich
„fairen“ Diskussion müssen auch die unbequemen Tatsachen offen zur
Sprache kommen. Risiken und (Neben-)Wirkungen dürfen nicht weiter
verharmlost werden. Mögliche Schäden müssen dem erhofften Nutzen
gegenübergestellt werden. Als Patienten und Angehörige, aber auch
als interessierte Öffentlichkeit, haben wir das Recht auf
ungeschönte Information. Wir haben das Recht auf informierte
Entscheidung und wollen die Entscheidungen über unsere Gesundheit,
unsere Zukunft und unser Leben nicht nur auf Halbwahrheiten und
Werbelügen stützen. Mirko Ološtiak, Februar 2016 (1) Der Ausdruck
Neusprech (englisch: Newspeak) stammt aus dem Roman 1984 von George
Orwell und bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen
künstlich modifiziert wurde. (…) Neusprech bezeichnet die vom
herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache.
Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das
Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation
des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken... (Wikipedia)
(2) siehe Alice Halmi,
http://www.irrenoffensive.de/foltersystem.htm (3) Neben der
Bezeichnung „Psychiatrie-Erfahrene“ könnten wir hier vielleicht
noch von „Menschen mit psychiatrischen Diagnosen“ sprechen – wenn
denn überhaupt ein Begriff nötig sein sollte, um Menschen zu
benennen, die das psychiatrische „Versorgungs-“-System in Anspruch
nehmen oder diesem ausgesetzt sind. (4) Thomas S. Szasz, 1960 -
http://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html (5)
siehe z.B.:
http://www.bpe-online.de/verband/rundbrief/2007/3/aderhold.htm (6)
siehe z.B.:
http://www.praxis-dr-shaw.de/blog/kann-die-behandlung-von-depressionen-mit-antidepressiva-zu-personlichkeitsveranderungen-fuhren/
(7) siehe auch:
http://patientensicht.ch/artikel/irving-kirsch-moderne-antidepressiva-sind-super-placebos
(8) Breggin, Peter R. (2013):Psychiatric Drug Withdrawal - A guide
for prescribers, therapists, patients, and their families.New
York:Springer Publishing Company (9)
http://fairmedia.seelischegesundheit.net/dossiers: „Der
Themendienst ist Teil des Informationsdienstes des
Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, in dem wir aktuelle
Informationen aus dem Bereich der seelischen Gesundheit
redaktionell zusammenstellen. Die Texte können Sie gerne
übernehmen. Wenn Sie selber etwas zum Thema machen möchten: Bei den
aufgelisteten Initiativen und Verbänden bekommen Sie Informationen
aus erster Hand – von Betroffenen, Angehörigen oder Fachleuten.
Möglich wird dieser Redaktionsdienst durch die Unterstützung des
Bundesministeriums für Gesundheit.“ Stellungnahme der DGSP zum
Pharma-(Werbe-)Dossier der "fairmedia"-Kampagne:
http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/Stellungn._ASG_Prof._Gaebel.pdf"
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