Petra Grimm über digitale Ethik | Podcast Ethik Digital

Petra Grimm über digitale Ethik | Podcast Ethik Digital

Podcast Ethik Digital - Ethik in Unternehmen
32 Minuten
Podcast
Podcaster
Digitale Ethik in Wissenschaft, Religion, Politik, Gesellschaft - Podcast von Rieke Harmsen und Christine Ulrich

Beschreibung

vor 3 Jahren

Professorin Petra Grimm ist Professorin an der Hochschule der
Medien in Stuttgart und leitet das Institut für Digitale Ethik.
Im Podcast "Ethik Digital" spricht sie mit Rieke Harmsen und
Christine Ulrich über digitale Ethik - und wie diese in
Unternehmen und Startups eingebaut werden kann.

Den Podcast gibt es auch als Video und als Text auf
www.sonntagsblatt.de/ethikdigital





Hier ist der Wortlaut zum Podcast.


Mit jedem Klick am Smartphone hinterlassen wir Datenspuren, mit
denen die Unternehmen dann wirtschaften - aber oft wissen wir
viel zu wenig darüber, sagt die Digitalethikerin Petra Grimm.
Darüber, wie mehr ethisches Bewusstsein zu Bürgern und Betrieben
kommt und warum Privatheit als Wert so wichtig ist, sprach sie im
Podcast mit Rieke C. Harmsen und Christine Ulrich. Grimm ist
Professorin für Medienforschung und Kommunikationswissenschaften
an der Hochschule der Medien in Stuttgart und leitet das Institut
für Digitale Ethik.

Frau Grimm, Sie sind seit 1998 Professorin und haben den Begriff
der Digitalen Ethik mitgeprägt. Im selben Jahr wurde Google
gestartet und sammelt seither fleißig Daten. Wie bewegen Sie sich
durch die vernetzte Welt?

Petra Grimm: Die Perspektive der Ethik umfasst auch die Frage
nach der persönlichen Wertehaltung. Ich selbst versuche im
Alltag, so gut es eben geht, meine Privatheit zu schützen und den
Markt der Möglichkeiten zu nutzen: Welche Dienste bieten mir
Alternativen? Welche schützen einigermaßen gut meine
Privatsphäre? Oder inwieweit versuchen sie, meine Daten zu
sammeln und auszuwerten, um sie womöglich für ein Profiling
(Profil-Erstellung) oder Social Scoring (soziales Punktesystem)
zu nutzen? Ich persönlich nutze zum Beispiel kaum die
Suchmaschine von Google, sondern verwende Startpage, das
funktioniert genauso gut.

Die Digitalisierung ist sehr schnell, die Ethik denkt gründlich
nach - wie soll sie Schritt halten?

Grimm: Digitalisierung und Ethik sind wie Hase und Schildkröte.
Der Hase ist schnell, aber die Schildkröte - die übrigens für
Klugheit und Weisheit steht - ist trotzdem schneller am
Ziel.

In der Fabel verhöhnt der Hase die Schildkröte, die ihn daraufhin
zum Rennen fordert. Der Hase ist so siegesgewiss, dass er
zwischendurch ein Nickerchen macht. Die Schildkröte gewinnt,
indem sie langsam, aber stetig läuft.

Grimm: Nun ja, die Schildkröte ist besonnen und stellt sich den
Herausforderungen. In der Digitalen Ethik befassen wir uns auch
mit neuen Herausforderungen, die sich durch die neuen
Technologien ergeben, wie etwa mit deren sozialen und ethischen
Bedeutungen und Auswirkungen. So ist etwa die Folgenabschätzung
bei Big Data und Künstlicher Intelligenz viel schwieriger
geworden, kausale Zusammenhänge und Verantwortungsstrukturen sind
komplexer geworden. Die Ethik muss dieser Entwicklung Rechnung
tragen und sich neuen ethischen Aspekten widmen, wie etwa der
Frage, ob sich unser Menschenbild verändert, wie eine
wertebasierte Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen
aussieht und vieles mehr.

Besteht trotzdem die Gefahr, dass die Ethik das Rennen
verliert?

Grimm: Ethische Kriterien können in der Praxis schon von Beginn
an, also bei der Entwicklung von Geschäftsideen, implementiert
werden. Diesen Ansatz nennt man "Ethics by Design". Dabei wird
nicht im Nachhinein noch versucht, ethische Aspekte zu
berücksichtigen, sondern diese sind bereits in der
Ideenentwicklung Bestandteil des Geschäftsmodells. Wichtig ist
hierbei, die Perspektiven aller Betroffenen zu berücksichtigen
und sich als Unternehmen die richtigen Fragen zu stellen, zum
Beispiel: Für welche Werte stehen wir? Welche Konflikte gibt es,
wenn die Perspektiven aller Stakeholder berücksichtigt werden?
Wie können wir fair, transparent und nachvollziehbar die Dienste
gestalten?
Wie kommt die Ethik in die Unternehmen ?

Sie haben kürzlich "Start-up with Ethics" veröffentlicht, ein
Arbeitsbuch für Jungunternehmen. Hemmen ethische Bedenken nicht
Innovation und Erfolg?

Grimm: In einem Forschungsprojekt für die Bayerische
Landeszentrale für neue Medien (BLM) haben wir Start-ups aus der
Medienbranche zu Ethics by Design befragt und eine Methode
entwickelt, mit der Start-ups selbst diesen Prozess konkret
durchführen können. Dazu entstand ein Handbuch, das als
praktischer Leitfaden dient. Dass es sich auch im wahrsten Sinne
des Wortes lohnt, sich eine ethische Expertise anzueignen, zeigt
die Praxis: Ein Beispiel hierfür ist die smarte Spielzeugpuppe
"Cayla". Sie hatte im Unterschied zu anderen internetfähigen
Puppen keinen Ausschaltknopf und zeigte nicht an, dass sie
Gespräche aufnahm, sie war "always on" - sie wurde von der
Bundesnetzagentur als Spionage-Tool eingeschätzt, weil sie
Gespräche aufzeichnen und an die Hersteller übermitteln konnte.
Dabei hätte es in der Entwicklung nur ein paar Cent gekostet,
einen Ausschaltknopf einzubauen. Aber so musste die Puppe vom
Markt verschwinden, die Eltern wurden sogar aufgefordert, sie zu
zerstören.

Im Frühjahr wollten deutsche Start-up-Gründer ein Produkt namens
"Pinky Gloves" auf den Markt bringen: rosa Plastikhandschuhe für
Frauen, die darin Menstruationsartikel entsorgen können. Das
Projekt scheiterte in einem Shitstorm. Warum?

Grimm: Es ist gescheitert, weil nicht die Perspektive der
Betroffenen, als der Verbraucherinnen, ausreichend miteinbezogen
und das Produkt an ihren Bedürfnissen vorbei entwickelt wurde.
Das ist ein wichtiger ethischer Aspekt: nicht nur die eigene
Perspektive im Kopf zu haben, sondern die Interessen, Bedürfnisse
und Werte der verschiedenen Stakeholder, also der Beteiligten,
miteinzubeziehen. Sich für Ethics by Design zu entscheiden, kann
also auch ökonomisch ein Wettbewerbsvorteil sein.

Sind die Menschen sensibilisiert für Ethik und bereit, sie zu
implementieren?

Grimm: Ich bin überzeugt, dass wir eine ethische Trendwende
verzeichnen. Schon 2018 sagten bei einer Befragung deutscher
Digitalunternehmen mehr als 70 Prozent, dass ihnen ethische
Standards wichtig seien. Das Bewusstsein ist dort längst
angekommen. Das Problem besteht oft eher in der Umsetzung, aber
auch bei den Entscheidungsträgern und komplexen Verantwortungs-
und Machtstrukturen.

Wichtig ist aber auch, inwieweit die Kunden es schätzen, dass
Produkte werteorientiert und nachhaltig sind und das aktiv
nachfragen. Wie wichtig ist es mir als Verbraucher, dass meine
Privatheit geschützt wird oder dass ich transparent angezeigt
bekomme, was im Hintergrund abläuft? Vielen Nutzerinnen und
Nutzern ist oft noch nicht klar, was unter der Oberfläche mit
ihren Daten passiert. Man hat ein mulmiges Gefühl, aber keine
genaueren Informationen. Und im schlimmsten Fall resignieren die
Nutzer oder nehmen eine nihilistische Haltung ein, wie unsere
aktuelle Studie zu den Werten, Ängsten und Hoffnungen in der
digitalen Alltagswelt gezeigt hat.

Ist das ein Kennzeichen der digitalen Gesellschaft, dass sie noch
relativ unwissend und unentschieden unterwegs ist? Warum
verzögert sich hier der ethische "turn", und wie kommt mehr
Bewusstsein zu den Bürgern?

Grimm: Eine Förderung von Digitalkompetenz ist zwar wichtig, aber
noch viel mehr die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen
durch eine Regulierung. In Europa sind wir mit der
Datenschutzgrundverordnung ja schon ein Stück nach vorne gekommen
- übrigens ein Modell, das auch für andere Länder Vorbildfunktion
hatte. Wenn es um das Thema Künstliche Intelligenz geht, dann
sind wir ebenfalls gefordert. Wie können wir angesichts der
Entwicklungen in China und den USA die digitalen Technologien so
gestalten, dass sie eine wertebasierte Mensch-Technik-Interaktion
ermöglichen und unsere demokratischen Werte widerspiegeln? Wenn
uns ein solches Alternativmodell gelänge, könnte das auch ein
Wettbewerbsvorteil sein.

Welche Rolle spielen die großen Tech-Unternehmen?

Grimm: Das Image der großen Tech-Unternehmen leidet zunehmend, im
Unterschied zu vor zehn oder 15 Jahren, wo die Euphorie und
Erwartungshaltung an die neuen Medien und Dienste groß war. Die
Geschäftsmodelle der US-Digitalmonopole wie Alphabet (Google,
Youtube), Facebook, Amazon oder Microsoft beruhen auf der
wirtschaftlichen Ausbeute der personenbeziehbaren Daten.

Diese Tech-Unternehmen verfügen mittlerweile über eine
Machtkonzentration, die ohnegleichen in der Geschichte ist. Sie
besitzen ein unbeschreiblich großes Wissen über uns und sind
meinungsbildungsrelevant; letztlich können sie auch dazu genutzt
werden, politische Wahlen zu beeinflussen.

Umso wichtiger ist die Förderung von Informations- und
Meinungsbildungskompetenz.

Grimm: Die aktuelle Pisa-Studie zeigt, wie schwer sich Schüler
tun, eine Meinung von Fakten zu unterscheiden und Desinformation
zu erkennen. Viel grundsätzlicher geht es auch darum, zu
verstehen, warum Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit sowie eine
freie Presse wichtig für die Demokratie sind.

Wir brauchen mehr Materialien und Angebote in den Schulen, damit
Pädagogen dieses Wissen vermitteln können und Schüler sich eine
fundierte Haltung aneignen können. Deshalb haben wir vom Institut
für Digitale Ethik zusammen mit der EU-Initiative "klicksafe" ein
Handbuch zur Meinungsbildung in der digitalen Welt
erstellt.

Warum ist Privatheit ein so zentraler Wert? Warum beeinträchtigt
es meine menschliche Freiheit, wenn meine Daten verfügbar
werden?

Grimm: Privatheit ist universaler Wert, auch wenn er kulturell
variabel gelebt und interpretiert wird. Privatheit bedeutet,
kontrollieren zu können, wer die Grenze zu meiner privaten
Lebenswelt überschreiten darf und wer nicht. Im informationellen
Sinn bedeutet Privatheit, dass ich kontrollieren kann, wer was in
welchem Zusammenhang über mich weiß. Letztlich geht es um die
Fragen von Autonomie und Freiheit: dass ich selbstbestimmt
entscheiden kann, wem ich meine privaten, vielleicht intimen
Gedanken zukommen lasse und wem nicht.

Privatheit kann auch ein geschützter Raum sein, in dem ich mit
anderen kommuniziere und meine privaten Gedanken austausche, oder
meine Geheimnisse - etwa mein Tagebuch - für mich behalte.
Letztendlich brauche ich Privatheit, um frei entscheiden und
handeln zu können. Wer keine Privatheit besitzt, ist dem System
ausgeliefert. Denn wer viel über mich weiß, kann mich leichter in
seinem Sinne beeinflussen und womöglich manipulieren.

Indem wir immer mehr Daten preisgeben, lassen wir uns auch
bewerten.

Grimm: Wenn Verbraucher heute ein Produkt oder eine Flugreise
online bestellen, kann es sein, dass sie unterschiedliche Preise
angezeigt bekommen. Dabei handelt es sich um das "dynamic
pricing". Je nachdem, wo jemand wohnt und welches Gerät er oder
sie benutzt, ob Apple oder Android, kann der Preis anders
gestaltet sein. Die Preisgestaltung ist dem Unternehmen
überlassen.

Problematischer wird es, wenn es sich um die Vergabe von Darlehen
und Krediten oder die Prämiengestaltung bei Versicherungen
handelt. Gesteigert wird das Ganze dann, wenn Mitarbeitende ihre
Fitnessdaten und Daten zu sonstigen Gewohnheiten preisgeben
müssen, wie es in einigen Ländern schon stattfindet.
Grundsätzlich ist aber die Zusammenführung von unterschiedlichen
Datensätzen ein Problem, also zum Beispiel, wenn Finanzdaten,
Gesundheitsdaten oder Kontaktdaten zusammen ausgewertet werden
können.

Bei Bewerbungsgesprächen wird bereits mit digitaler
Gesichtserkennung experimentiert. Braucht es mehr Diskussion
dazu?

Grimm: Gesichtserkennung, also Face Analytics, gewinnt an
Bedeutung, gerade bei Einstellungsverfahren. Wer sich heute auf
einen Job bewirbt, wird eventuell zuerst mit einer künstlichen
Intelligenz konfrontiert. Wie ein Experiment des Bayerischen
Rundfunks gezeigt hat, bietet ein Start-up bereits ein KI-System
an, mit dem die selbstproduzierten Videos von Bewerbern
ausgewertet werden.

Die Vermutung, dass die KI objektiver oder neutraler sei als ein
Mensch, konnte sich allerdings nicht bestätigen. Ein Test der
Software zeigte: Je nach Outfit ändert sich die Bewertung - zum
Beispiel schätzt die KI die Bewerberin um zehn Punkte weniger
gewissenhaft ein, wenn sie eine Brille trägt. Trägt sie ein Tuch
um den Kopf, dann wird sie als offener, gewissenhafter und
weniger neurotisch eingeschätzt als im Original.

Auch Hintergrund und Beleuchtung können das Ergebnis
beeinflussen. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen wie etwa:
Sollten künstliche Systeme zur Bewertung überhaupt eingesetzt
werden? Warum vertrauen wir den Maschinen mehr als der
Entscheidung von Menschen? Und: Welches (simple) Menschenbild
verbirgt sich hinter den Beurteilungskriterien?

Das klingt mehr als unfair.

Grimm: In der Tat ist die Frage nach Fairness und Diskriminierung
eine zentrale, wenn es um Künstliche Intelligenz geht. Darüber
hinaus ist aber auch der Bildungsfaktor relevant. So könnten
digitale Technologien auch zur Verfestigung von
Chancenungleichheit führen: Diejenigen, die sich mit den
Technologien besser auskennen, können sich besser schützen oder
sogar das System überlisten, während diejenigen, denen es an
Bildung fehlt, dem System ausgeliefert sind. Wer beispielsweise
weiß, wie Bewerbungsvideos möglichst vorteilhaft gestaltet werden
sollten, wird einen deutlichen Vorteil haben.

Was raten Sie Ihren Studierenden?

Grimm: Für mich ist der Ansatz der Integrierten Lehre wichtig.
Das heißt, unterschiedliche Perspektiven, wie ethische,
wirtschaftliche und technische, zusammenzuführen. Wichtig ist es,
Studierende für ethische Fragen zu sensibilisieren. Wir
diskutieren zum Beispiel, ob Roboter menschlich aussehen sollen
oder ob Maschinen moralisch handeln können. In einem Think Tank
befassen wir uns auch mit Zukunftsszenarien und der
Sinnhaftigkeit von digitalen Technologien für die Menschen.

Mein Ansatz ist, Ethik anwendungsnah zu reflektieren, aber auch
die richtigen Methoden zu nutzen. Deshalb finde ich den Ansatz
der Narrativen Ethik so attraktiv: Filme, Anwendungsfälle, also
Geschichten aller Art zu nutzen, um ethische Konflikte
herauszuarbeiten. Doch es geht nicht nur um Reflexion und
Faktenwissen: Die Studierenden sollen auch eine Haltung
entwickeln, also begründen können, warum sie sich so und nicht
anders verhalten. Eine Haltung zeigt sich im Handeln, nicht in
Worten.

Thema Gewalt - Cybermobbing, Hatespeech, Gewaltdarstellungen in
Spielen: Wie steht es hier um die Medienkompetenz der
Jugendlichen?

Grimm: Diese Beispiele für Online-Gewalt sind sehr
unterschiedlich gelagert. Ebenso können wir nicht von den
Jugendlichen verallgemeinernd sprechen. Beim Thema Cybermobbing
sind vor allem Gewaltprävention an Schulen und entsprechende
Strukturen besonders wichtig. Auch die Unterstützung durch
Peer-to-Peer-Projekte wie etwa das Angebot der Medienscouts von
"juuuport" sind hilfreich.

Wir haben auch Schulmaterialien in dem Handbuch "Ethik macht
klick" erstellt, in dem wir mithilfe der von uns entwickelten
"Medienethischen Roadmap" zeigen, wie ein Reflexionsprozess über
Cybermobbing möglich ist. In den Blick sollte man auch die
Struktur der Sozialen Medien nehmen: Der digitale Kosmos, in den
junge Nutzer hineingeboren werden, ist von ökonomischen
Prinzipien geprägt. Für Kinder und Jugendliche ist dieser Kosmos,
den sie in den Sozialen Medien erleben, selbstverständlich. Diese
geben die Struktur vor, wie man kommuniziert und wie man sich
präsentieren soll. Dazu gehört auch ein Wettbewerb um
Anerkennung.

Kinder und Jugendliche werden durch Soziale Medien zu einem
ständigen Bewerten und Vergleichen sozialisiert. So werden sie
auch dazu veranlasst, ihre persönlichen Informationen und Bilder
preiszugeben und damit Einblick in ihre Privatsphäre zu geben.
Damit erhöht sich allerdings ihr Verletzungsrisiko, etwa wenn
andere sich über sie lustig machen oder sie gar mobben. Eine
weitere Herausforderung ist der Zugang zu problematischen
Inhalten. Kinder und Jugendlich können im Netz allgemein und
nicht nur in Spielen mit unterschiedlichen Inhalten wie
Pornografie oder Gewalt konfrontiert werden, ohne sich gut
schützen zu können.

Was braucht es hier Ihres Erachtens?

Grimm: Neben den Maßnahmen zur Gewaltprävention und
medienethischen Kompetenzförderung müssen wir auch direkte
Kommunikationsfähigkeit fördern. Nicht nur bei Heranwachsenden,
auch bei Erwachsenen ist ersichtlich, dass bei Konflikten der
mediale und damit distanzierte Kommunikationsweg, etwa via
WhatsApp, häufig genutzt wird. Damit sind aber Missverständnisse
vorprogrammiert, denn im Unterschied zur direkten Kommunikation
kann ich bei der indirekten nicht so gut wahrnehmen, wie mein
Gegenüber direkt auf mich reagiert.

Wenn ich jemandem face to face gegenüberstehe, bekomme ich mit,
was es für Folgen hat, wenn ich einen unbedarften Satz sage: Dann
sehe ich gleich beim anderen, dass er dies möglicherweise
missverstanden hat und sich verletzt fühlt. Online merke ich das
nicht sofort. Missverständnisse sind viel schneller möglich und
daraus können sich emotionale Dynamiken entwickeln.

Was braucht es noch für Gewaltprävention?

Grimm: Hilfreich sind auch Geschichten und der Fokus auf die
Bystander, also diejenigen, die Zeugen von Cybermobbing sind. Wir
haben hierzu im Forschungsprojekt "Prädisiko", bei dem es um die
Prävention durch Kommunikation ging, mitgearbeitet. Eine
Erkenntnis war, dass man mit bestimmten Videostorys für das Thema
"Cybermobbing" in den Sozialen Medien erfolgreich
sensibilisieren, Handlungsalternativen aufzeigen und die
Bystander erreichen kann.

Denn diese sind die entscheidende "Masse", sie können den Täter
isolieren - oder ihn unterstützen, indem sie nichts tun. Man
sollte vor allem diejenigen erreichen, die das Ganze
mitverfolgen, aber nicht einschreiten und es dadurch geschehen
lassen. Ein weiteres Projekt, mit dem wir auch das Thema
Cybermobbing adressieren, sind die "Zehn Gebote der Digitalen
Ethik". Hier geht es erstmal nur darum, einen Impuls für eine
Reflexion über Cybermobbing zu setzen.

Man muss also diese kritische Masse dazu bekommen,
medienkompetent zu werden, indem die "Zehn Gebote" beherzigt
werden. Welche Geschichten werden da erzählt?

Grimm: Die "Zehn Gebote der Digitalen Ethik" sind nur ein kleiner
Meilenstein. Allerdings haben sie einen großen Effekt erzielt und
wurden vielfach von Schulen angefragt. Es handelte sich um ein
Projekt mit Masterstudierenden, das nun auch einen Relaunch und
Aktualisierung erfahren hat. In diesen zehn Geschichten geht es
ist es um vielfältige ethische Themen, etwa um
Desinformation.

Die Geschichte bezieht sich auf das dritte Gebot: "Glaube nicht
alles, was du online siehst, und informiere dich aus
verschiedenen Quellen." Es ist ein sehr aktuelles Gebot, wenn man
etwa an die Corona-Verschwörungserzählungen denkt. In dieser
Geschichte ist Max die Hauptfigur: "Nach seinem Abitur will Max
durch Südamerika reisen. Schon mehrere Monate vor Reisestart
beginnt er mit der Planung und kommt mit dem Thema Impfungen in
Berührung. Das Auswärtige Amt empfiehlt dringend eine
Gelbfieberimpfung, da Stechmücken dort tödliche Infektionen
übertragen können. Max erinnert sich an ein Youtube-Video, das er
vor einigen Tagen gesehen hat. In diesem behauptet ein Arzt, dass
bestimmte Impfungen zu gravierenden Nebenwirkungen wie Autismus
führen können. Max entscheidet sich deshalb gegen eine Impfung.
Schnell verbreitet sich Max' Meinung in seiner Klasse.

Daraufhin schickt ihm sein bester Freund mehrere Links zu
wissenschaftlichen Studien, die die Behauptung des Arztes als
Falschmeldung enttarnen. In Zukunft will sich Max vielseitiger
und kritischer informieren." Anhand dieser simplen Geschichte
kann man Reflexionsfragen stellen: Warum glaubt Max diesem
Youtube-Video? Und warum ist es wichtig, dass man nach Wahrheit
sucht? Was würde man tun, wenn man selbst in der Lage wie Max'
Freund wäre? Die Geschichten sollen an die eigene
Lebenswirklichkeit anschlussfähig sein und somit motivieren, sich
überhaupt mit ethischen Fragen zu beschäftigen.

Blicken Sie optimistisch oder pessimistisch in die digitale
Zukunft?

Grimm: Von Natur aus bin ich eher optimistisch und sehe die Dinge
nicht in Schwarz-Weiß. Mir erscheint oftmals der goldene
Mittelweg als der sinnvollste. Wenn ich mir die Zukunftsszenarien
zur Digitalisierung ansehe, kann ich aber wieder nur eine
Dichotomie der Narrative erkennen. Wie wir die Welt verstehen,
hängt maßgeblich davon ab, welche Erzählungen, also Narrative,
wir Phänomenen und Entwicklungen zuschreiben. Narrative
beeinflussen unsere Sicht auf die Welt und unser ethisches oder
unethisches Verhalten.

Die mit der Digitalisierung und KI aktuell verbunden Hoffnungen,
Erwartungen und Ängste lassen sich auf zwei Meta-Narrative
reduzieren: Ich nenne sie das Heilige-Gral-Narrativ und das
Büchse-der-Pandora-Narrativ. Das Heilige-Gral-Narrativ erzählt
uns die Geschichte der Digitalisierung als eine, die unsere
großen Probleme lösen wird. Sie verspricht neue
Wertschöpfungsmodelle. Wenn wir sie nicht schnellstmöglich für
Geschäftsmodelle fruchtbar machen, dann werden wir im Wettbewerb
mit anderen Ländern, vor allem den USA und China, abgehängt. Die
Internetkonzerne versprechen uns, dass Digitalisierung und KI
mehr Lebensqualität und Komfort bieten. Einige glauben sogar an
eine Superintelligenz, die irgendwann dem Menschen überlegen sein
könnte.

Und die pessimistische Sicht?

Grimm: Das Pandora-Narrativ erzählt uns dagegen die
Digitalisierung als Bedrohung. Hier werden Ängste artikuliert,
die zum Teil berechtigt, zum Teil unberechtigt sind. So wird ein
möglicher Kontrollverlust befürchtet, ebenso der Verlust von
Arbeitsplätzen, aber auch die Risiken der Überwachung und
Manipulation werden in diesem Narrativ artikuliert. Schließlich
wird befürchtet, dass sich das Master-Slave-Modell umkehrt und
wir am Ende diejenigen sind, die sich der Maschine anpassen
müssen.

Wie handeln wir als Bürger verantwortlich?

Grimm: Das ist keine leichte Frage. Verantwortung kann ich nur
für etwas oder jemanden übernehmen, sofern ich einen
Handlungsspielraum habe und für mein Handeln verantwortlich
gemacht werden kann. In der digitalisierten Alltagswelt begegnet
jede Person in vielfältiger Weise Situationen, in denen es um
verantwortungsvolles Handeln geht: wenn wir mit anderen
kommunizieren, wenn wir Bilder und Nachrichten teilen oder wenn
wir in konfliktreiche Situationen geraten, zum Bespiel Hass,
Mobbing oder Desinformation erleben.

    Wichtig erscheint mir, dass wir Möglichkeiten
suchen, die Entwicklung der digitalen Technologien mitzugestalten
und dort widerstandsfähig zu sein, wo wir uns unter Druck gesetzt
fühlen. Wir sollten auch versuchen, Konflikte möglichst direkt
und nicht medial auszutragen sowie bereit zu sein, dem anderen
zuzuhören. Statt eines Schlagabtauschs wäre es wichtig, wieder
mehr Dialoge zu führen, die auf guten Argumenten und weniger
Affekten basieren.

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