Menschen, Maurer, Motorradfahrer

Menschen, Maurer, Motorradfahrer

26 Minuten
Podcast
Podcaster
Der Podcast für Brüder, Schwester und alle, die sich für Freimaurerei interessieren. Ausgewählte "Zeichnungen" (Impulsvorträge) von Freimaurern.

Beschreibung

vor 3 Jahren

Menschen, Maurer, Motorradfahrer


Eine Zeichnung von Alexander Walter


 


Drei Wesen sind geeignet, mich besonders zu faszinieren:
Menschen, Maurer und Motorradfahrer. Gelegentlich fallen sie in
eine Person und davon will ich auf diesem Spaziergang erzählen.


Der Mensch als größtes Wunder der Natur, als Gegenstand der
Selbsterkenntnis, zu der die Freimaurerei animiert, als ein
komplexes und widersprüchliches System aus Körper, Seele und
Geist, ist schon seitdem ich denken kann geeignet, mich zu
begeistern. Die Maurer - betrachtet aus der Ferne in
verschiedenen Medien und erlebt im Umgang in direkter Nähe - sind
eine besondere Gruppe unter diesen Menschen, die schon wegen
ihrer Vielfalt, Komplexität und Einzigartigkeit gewisse Rätsel
aufgibt. Die Verschwiegenheit und Geheimnisse in der Freimaurerei
hingegen tragen tatsächlich zu diesem Rätselhaften, das dem
interessierten Denker immer Spannung verspricht, später nur noch
wenig bei. Und die Motorradfahrer sind auch schon lange eine
Spezies, die mich interessiert, über die ich mich belesen habe
und denen ich die Freude habe, immer wieder zu begegnen.


Auf der einen Seite muss mein Interesse an und meine Affinität zu
den Bikern doch verwundern. Denn ich selber hätte nie
Motorradfahren können. Ausgestattet mit einer Sehbehinderung von
Geburt an, die nach und nach mit 20 in einer Blindheit endete,
konnten mich die Maschinen und deren Einzelteile nicht wirklich
in ihren Bann ziehen. Auf der anderen Seite ist es gerade meine
Seheinschränkung, die mich immer wieder in den Kontakt mit
Rockern, Bikern und Liebhabern der Zweiräder gebracht hat. Mit 14
Jahren war ich auf meinem ersten größeren Bikertreffen, angezogen
von sehr viel Freibier. Und noch besser als dieses - und das will
aus meinem Munde doch etwas heißen - waren die Menschen, die
einem dort über den Weg gelaufen sind.


Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag in einem alten
Steinbruch in den Weinbergen bei Kasel in der Nähe von Trier
erinnern. Mit einigen Freunden waren wir aufgelaufen, passierten
Holzbuden, die mit der Aufschrift "Schmackofatz" als Essensstände
ausgewiesen waren und machten, wozu man hierher kam: Trinken. Die
gesamte Atmosphäre dabei war erstaunlich friedlich und
ausgelassen. Sie wurde nur von wenigen Ausnahmen, die doch sehr
regelhaft abliefen, unterbrochen. Teil einer solchen Ausnahme war
auch ein Kumpel von mir, unfreiwillig. Der unzweifelhaft feine
Kerl, der sich gerade in der Dachdeckerlehre befand und dessen
einnehmendes Wesen einigermaßen gut hinter selbstgestochenen
Tatoos verschwand, geriet irgendwie mit Glatzen-Manni, einem
Skinhead gewisser Prominenz im damaligen Trier, aneinander. Nur
hatte mein Kollege absolut keine Lust auf irgendeine
Auseinandersetzung handgreiflicher Natur. Nicht so ein paar
umstehende Motorradfreunde, die den Zwischenfall beobachtet
hatten und dankbar, bestimmt und unmissverständlich die Sache
klärten. 


***


Für viele, die wenig in diesen Welten verkehren, mag es sich
einigermaßen seltsam anhören, aber meine Erfahrung von Anfang an
war, dass es unter Bikern friedlich, gerecht und regelhaft
zugeht. Du kannst als Skinhead problemlos mitfeiern, aber du
kannst dich nicht falsch verhalten. Das Verhalten in diesen
Kreisen ist das einzige Kriterium, nach dem man bemessen wird.
Und dabei werden sogar die Verhaltensmöglichkeiten
berücksichtigt. Und das ist nicht überall so. Zu meiner
Sehbehinderung gehörte in der damaligen Zeit neben der starken
Kurzsichtigkeit, die mit einer sehr dicken Brille nur leicht
korrigiert werden konnte, eine deutliche Blendempfindlichkeit bei
Tag und eine Sehschwäche bei Dunkelheit in Richtung
Nachtblindheit. In Diskotheken beispielsweise war ich damit durch
die hellen Lichter im Wechsel mit der Schwärze vor echte Probleme
gestellt.


So habe ich dann auch einige Male in meinem Leben in Clubs und
ähnlichem unfreiwillig Schlägereien ausgelöst und das eine oder
andere mal, weil ich irgendjemanden versehentlich angerempelt
oder angeblich "schief angeschaut" hatte, den Unmut der
Beleidigten tatkräftig zu spüren bekommen. Unter Bikern ist das
nie passiert. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens: Die
Beobachtungsgabe von Motorradfahrern, deren visuelle Fähigkeiten
durch ihr Hobby gut trainiert sind und die auch in der Lage sind,
ihre exakten visuellen Beobachtungen korrekt zu deuten. Zweitens:
Das ausgeprägte Selbstbewusstsein dieser, das sich in einer
Kombination aus Ruhe, Mut und einem Sinn für Gerechtigkeit
ergibt. Durch einen halbblinden oder blinden Umherirrenden kann
man Biker weder bedrohen, verunsichern und provozieren, noch
beleidigen. Vielleicht hat es aber auch etwas mit Ehre zu tun.
Während der Typ in dem Tanzschuppen seine Kumpels oder umworbene
Frauen mit Gewalt gegen einen situativ wehrlosen Menschen
beeindrucken will, er die Gelegenheit ergreift, seine eigentlich
nicht existente Stärke gegen eine Schwäche, die tatsächlich keine
ist, zu beweisen, er also Mut durch Feigheit zu demonstrieren
versucht, ist es bei den Bikern umgekehrt. Für
Auseinandersetzungen suchen sie eher stärkere als schwächere
Gegner und Gelegenheiten, in denen man für Gerechtigkeit
eintreten kann. Alles andere gilt als ehrlos.


Dem entgegen steht dabei eine ungesunde Nähe zur organisierten
Kriminalität bei einigen Motorradclubs. Darüber kann man einiges
lesen und wenn man sich unbefangen in der Welt der Biker bewegt,
dann begegnet einem durchaus der eine oder andere, der schon in
Konflikt mit dem Gesetz geraten ist. Und sogar über diese kann
ich aus eigener Erfahrung nichts Schlechtes sagen. Ganz im
Gegenteil. Einige von ihnen waren und sind mir sehr gute Freunde,
die mir schon in vielen Dingen Hilfe geleistet haben. Wenn ich
sie nach ihrem Verhalten mir gegenüber beurteile, dann komme ich
nicht umhin festzustellen, dass sie für mein Leben wesentlich
wertvoller waren und sind, als so manch rechtschaffener
gesetzestreuer Mensch. Darüber kann ich mich nicht wundern. Wenn
man behindert ist, kann man erleben, dass Recht und Gerechtigkeit
hin und wieder nicht zusammenfallen. Auch in einem zweifelsfrei
hervorragenden Rechtssystem wie in Deutschland, das vornehmlich
die Interessen der Mehrheiten zu wahren hat, muss das für
Minderheiten naturgemäß so sein. Allerdings, mit dieser dunklen
Seite der Motorradszene, die prozentual nur einen verschwindend
kleinen Teil betrifft, hatte ich nie viel Kontakt. Aber, man
müsste auch mehr als blind sein, wenn man diesen Teil dort
übersieht. Wieder gilt, dass man damit nichts zu tun haben muss,
wenn man damit nichts zu tun haben will. 


***


Drei Dinge werde ich in Bezug auf meine Blindheit häufig gefragt.
Wie ist es blind zu sein? Wie ist es, blind am Ritual in der
Freimaurerei teilzunehmen? Und: Wie ist es, blind im Beiwagen
Motorrad zu fahren? Meist sind meine Antworten auf die Fragen
unzufriedenstellend für diejenigen, die sie stellen. Das hat drei
Gründe. Erstens sind die Fragen teilweise einfach zu inkonkret
und zu weitläufig. Zweitens kann ich sie teilweise nicht oder
entweder nur intraindividuell oder interindividuell vergleichend
beantworten. Und drittens bin ich bei Fragen bezüglich meiner
Behinderung in gewisser Weise launisch: Manchmal gebe ich gerne
Auskunft, manchmal nicht. Falsch sind die Fragen aber nie, da sie
zum einen meist ein echtes Interesse ausdrücken und zum anderen
in einen Dialog führen können, der für beide Seiten
erkenntnisreich sein kann.


Die Frage danach, wie es ist blind zu sein, ist lediglich die
Frage nach meiner Identität insgesamt. Ich bin ohne Blindheit
nicht denkbar, nicht einmal für mich selbst. Ich mache mir
tatsächlich keine Vorstellung davon wie es wäre, nicht blind
geworden zu sein. Vielleicht bin ich da phantasielos, aber für
mich ist das ebenso absurd, wie für Sie darüber nachzudenken, wie
das Leben mit einem dritten Arm wäre und was sie so alles
verpassen und nicht tun können, weil sie einen solchen nicht
haben. Natürlich ist es für mich wichtig zu verstehen und
einschätzen zu können, wie, ob und was meine Mitmenschen sehen
können - um so mehr, wenn ich mich auf sie verlasse, wenn ich
ihnen blind vertraue. Aber das ist eben die Einschätzung derer
Fähigkeiten und nicht meiner. Und da stoße ich an gewisse
Grenzen. Weil ich fast 20 Jahre gesehen habe, kann ich mir Farben
und Dimensionen vorstellen, habe Bilder im Kopf, die ich nie
vergessen werde und denke insgesamt wohl sehr bildhaft. Aber je
länger man blind ist, desto unwichtiger wird einem die sichtbare
Welt. Aus den Augen, aus dem Sinn. So ist es einfach bei mir. Und
das ist übrigens sehr angenehm. Ein farbloses Leben kann man auch
nonvisuell sehr bunt machen. Und eines darf ich verraten:
Gefühlte Farben sind wesentlich eindringlicher und schöner, als
es gesehene je sein könnten und gewesen wären. 


Wenn mich also jemand fragt, wie es ist blind zu sein, höre ich
die Frage Kants danach, was der Mensch ist, sowie die Frage,
welche so zentral dem Lehrling in der Freimaurerei gestellt wird,
wer ich bin. Und so beantworte ich die Frage dann auch. Wer von
mir wissen will, wie es ist blind zu sein, der muss mich
kennenlernen. Und er wird dann nur erfahren, wie es für mich ist
blind zu sein, sowie dabei erleben, dass einen blinden und
sehenden Menschen nicht mehr unterscheidet als die Sehfähigkeit.
Wie schwierig die Frage danach zu beantworten ist, wie es ist
blind zu sein, können Sie sich vielleicht gut vorstellen, wenn
ich sie umkehre. Wie ist es, sehend zu sein? Aber es sind eben
auch sehr spannende Fragen. Man kann nichts dazu sagen oder
tagelang darüber reden. Im letzteren Fall redet man über das
Menschsein an sich und wird am Ende verblüfft feststellen, dass
die gefundenen Antworten auf zwei diametral entgegengesetzte
Fragen … die selben sind.


***


Meine Erfahrung ist, dass man als Mensch, Maurer und
Motorradfahrer dann Akzeptanz und Anerkennung unter
seinesgleichen findet, wenn man der ist und vorgibt zu sein, der
man auch tatsächlich ist. Das setzt Selbsterkenntnis,
Reflektiertheit, Ehrlichkeit und Authentizität voraus und das
schätzen die Mitmenschen, wenn sie es in einem sehen können. Wenn
man erblindet, ist es wirklich schwierig, zu erkennen und zu
bleiben, wer man ist. Eine Erblindung ist schon eine große
Veränderung. Aber nach vielen Jahren - bei mir waren es wohl rund
10 bis 15 - muss man feststellen, dass sie viel weniger
substanziell ist, als man sich dies je hätte vorstellen können.
Sieht man von den Alterungsprozessen und der zunehmenden
Lebenserfahrung ab, bleibt man im Kern der, der man auch vorher
war.


***


Wie ist es nun, blind das Ritual in der Freimaurerei zu erleben?
Schwestern und Brüder haben mich dies schon häufig gefragt, und
ein Artikel dazu aus meiner Feder mit dem Titel "Ein blinder
Blick auf die königliche Kunst" ist sowohl in der
Freimaurer-Zeitschrift „Humanität“, als auch auf der
Internetseite der Großloge der Alten Freien und Angenommenen
Maurer von Deutschland (www.freimaurerei.de) erschienen und
später auch in das Freimaurer-Wiki aufgenommen worden. Die Frage
bleibt für mich schwer zu beantworten, da ich das Ritual nie
sehenden Auges erlebt habe. Ich könnte ein mehrbändiges Werk
darüber vorlegen, wie ich das Ritual erfahre. Aber das bringt ja
eher die Kraft, Stärke und das Potential des Rituals zum
Ausdruck, als dass es etwas über meine Blindheit sagen würde.
Viele Brüder können sich in dieser epischen Breite über das
rituelle Erleben auslassen. Das ist ein wichtiger Teil der
Freimaurerei. So teilen wir Freude, bringen uns gegenseitig zum
Nachdenken, inspirieren uns, schulen unsere Empathie. Und
natürlich sind Logen gesegnet, die Brüder in ihren Reihen haben,
die das Ritual mit vollkommen unterschiedlichen Möglichkeiten
wahrnehmen, verfolgen und mitgestalten. Das steigert die Vielfalt
und das Potential noch, die in der Freimaurerei ohnehin schon so
ausgeprägt sind. 


***


Und wie ist es blind Motorrad im Beiwagen mitzufahren? Auch das
lässt sich vermutlich nur wirklich gut beantworten, wenn man
selber einmal sehend gefahren ist. Vielmehr, als dass ich das
Mofa eines Jugendfreundes bei einem kleinen Sturz etwas demoliert
hatte, habe ich aber diesbezüglich nichts vorzuweisen. Und
ohnehin ist es vermutlich so, dass dem Motorradfahrer sein Hobby
Unterschiedliches bedeutet. Für einige mag es Freiheit, für
andere Stärke, Selbstüberwindung, Gemeinschaft, Glück,
Unabhängigkeit und vieles mehr sein. Ein geschätzter Bikerbruder,
dessen Frau leider früh verstorben ist, erklärte mir einmal, dass
ihm das Motorradfahren gerade in der Zeit des Verlustes und der
Trauer sehr geholfen habe. Denn wenn du auf der Maschine sitzt
und anspruchsvolle Touren fährst, dann musst du dich darauf
konzentrieren, der Kopf muss dabei sein und kann nicht in
dysfunktionale Gedankenschleifen abgleiten. Denn das wäre dein
Ende.


In erster Linie ist das Mitfahren für mich ähnlich. Ich muss zwar
nicht aufmerksam sein, aber - und das ist ein großer Unterschied
zu meinem sonstigen Alltag - ich habe keinerlei
Handlungsfreiheit. Ich kann nichts lesen, nicht noch etwas hier
oder dort erledigen, bin nicht erreichbar, kann nichts schreiben.
Ich muss ganz bei mir sein. Lediglich über die Rockmusik, die
mich dabei durch die Kopfhörer begleitet, habe ich
Entscheidungsmacht. Nun hat man als blinder Mensch quasi das
umgekehrte Problem, das sich sehenden Menschen im Alltag stellt.
Sie müssen, so scheint es mir, in einer immer hektischeren,
schnelleren, reizüberfluteten und oberflächlichen Welt darauf
achten, nicht durch die ganzen Reize zu weit von sich selber in
eine ungesunde Selbstdistanziertheit und in soziale Verbände, die
seelenlos sind, weggeführt zu werden. Wir hingegen müssen sehr
darauf achten, nicht durch mangelhafte soziale Teilhabe,
Isolation und ein Zuwenig an Reizen in eine selbstbezogene Tiefe,
Verbitterung oder eine Subkultur des unverträglichen
Außenseitertums zu geraten, die für niemanden außer uns selber
noch nachvollziehbar ist und in eine Anspruchshaltung gegenüber
den Mitmenschen und der Gesellschaft führt, denen sie nicht
gerecht werden können.


Wenn man nun bei einem Freund und Bruder mitfährt, dann kann man
dies einerseits nicht alleine machen, noch weniger, wenn das
Schwenkergespann Teil einer langen Kolonne ist. Andererseits ist
man während der Fahrt doch nur bei sich und nirgendwo anders. Das
Intercom erlaubt zwischendurch einen kurzen Austausch, aber
ansonsten kann man in Gemeinschaft an keinem anderen Ort so zu
sich selber kommen. Und ja, blind im Beiwagen mitzufahren ist die
ultimative Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit.
Achterbahnen sind nichts dagegen. Ich bin immer wieder verwundert
darüber, wieviel Hormoncocktails der Körper an einem einzigen Tag
ausschütten kann.


***


Wie sind Menschen? Wie sind Maurer? Wie sind Motorradfahrer? Dass
ich einmal alle drei Fragen konzentriert in eine zusammenfassen
können würde – nämlich: Wer bin ich? – hätte ich ehrlich gesagt
nie gedacht. Auf alle Fragen ist die Antwort wohl komplex,
vielseitig und menschlich. Das Leben nimmt seltsame Wege. Und so
sehr wir Freimaurer, eben weil wir uns der Vergänglichkeit so
bewusst sind und wir sie uns immer wieder vor Augen führen, auch
bemühen, diese Lebenswege aktiv gestaltend zu gehen und
aufmerksam zu wählen, so sehr muss man beim Blick in den
Rückspiegel auch feststellen, dass eine unbeeinflussbare
Zufälligkeit im Dasein steckt. Und doch sollte man einfach sein
und bleiben, wer man ist. Von Zeit zu Zeit sollte man
zurückblicken, damit man nicht vergißt, wo seine Wurzeln liegen
und welchen Weg man bisher gegangen ist. Und wenn wir dann
zurückschauen, dann sollte man befahrene Teilstrecken nicht
ausblenden. Anderen - und manchmal einem selber - mag es sich nur
schwer erschließen, aber wenn man wahrhaft zu sich kommt, dann
hat jeder einzelne Meter auf dem Weg Sinn gemacht, man hätte
keinen auslassen können.


Natürlich kann man eine Erblindung sehr dramatisch mit
"schrecklich", "ich würde mich umbringen", "das ist das
schlimmste Vorstellbare" und vielem mehr assoziieren. Aber
letztlich ist das auch nicht mehr als der Ausdruck von Angst und
einer gewissen Unfähigkeit, die Perspektive zu übernehmen. Als
ich mit 17 die ersten blinden Menschen in dem Bewusstsein
kennenlernte, dass ich vermutlich auch bald ganz blind sein
würde, hat mich eine geburtsblinde Mitbewohnerin in einem
Gespräch sehr nachdenklich gestimmt. Ich hätte vollkommen
selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie die Wahl, sofort
sehend sein zu können, direkt ergriffen hätte, wenn sie diese
Gelegenheit bekommen hätte. Sie aber klärte mich auf, dass sie
das nicht wollen würde, weil sie sich eben nur so kenne und möge,
sie zufrieden sei und nichts ändern wolle. Ich hielt dies damals
nicht für glaubhaft. Nach einiger Zeit des Zusammenlebens
dämmerte mir, dass sie es tatsächlich so meinte. Und heute, zwei
Jahrzehnte später, kann ich sie mehr als verstehen.


Auf meinem Weg in die Blindheit und auf der Strecke, die ich bis
heute als Blinder zurückgelegt habe, haben mich sehr viele
Menschen, Maurer und Motorradfahrer - und ich sie - begleitet. Da
wäre von so vielen zu berichten. Und es ist ein wenig wie in der
Freimaurerei: Immer will man deren Güte an großen Namen
festmachen. Dabei besteht ihre wahre Qualität in den vielen
namenlosen Schwestern und Brüdern, welche die Humanität ohne
besondere Anerkennung leben. Da war mein Betreuer im Internat,
ein Rocker durch und durch, alleinerziehender Vater, von dem ich
nicht nur das Kochen und weiteres im Haushalt, sondern auch sehr
viel über die Menschen gelernt habe. Oder eine
Mobilitätstrainerin, die Frau des Präsidenten des örtlichen
Motorradclubs, die mir nicht nur den Umgang mit dem Blindenstock
beigebracht hat, sondern auch die nötige Dreistigkeit im
Auftreten, ohne die du als Blinder untergehst. 


Als ich rund 15 Jahre später Maurer wurde, hatte ich zwar, da ich
doch sehr gründlich bei der Recherche bin und die Entscheidung
über die Zugehörigkeit zu einem Lebensbund doch sehr überlegt
treffen wollte, auch davon gelesen, dass es die ‚Masonic Bikers‘
gibt, aber etwas darunter vorstellen konnte ich mir ebensowenig,
wie ich im Vorfeld das rituelle Erleben zutreffend hätte
antizipieren können. Und tatsächlich muss das genau so sein. Die
Mitgliedschaft zur Freimaurerei muss sehr sorgfältig in einem
zeitlich ausgedehnten Prozess erwogen werden. Aber dabei kann man
gar nicht darauf kommen, was einem das Ritual später sein wird.
Dass einer meiner Brüder der Loge, der ich mich anschloss, ein
Gespann fährt, bei den ‚Masonic Bikern‘ auch in organisatorischer
Hinsicht sehr aktiv ist und zudem ein guter Freund wurde, ist
reiner Zufall.


Wie gesagt, Lebenswege sind eine wundersame Mischung aus Planung
und Zufälligkeit. Mit dem genannten Bruder und den Masonic Bikern
war ich nun schon häufiger auf Tour und unterwegs. Und das ist
die perfekte Mischung: Menschen, Maurer und Motorradfahrer, alle
für sich und doch verbrüdert in der Weltbruderkette, die hier zur
Weltbruderkolonne wird. In einer Coronalücke konnte ich in diesem
Sommer auch erstmals an einem Treffen im Ausland, genauer in der
Schweiz, teilnehmen. Und es war wie bei unseren Zusammenkünften
in Deutschland: Wunderbare Menschen zum Austausch, ernsthafte
Freimaurerei auf höchstem Niveau und großartige Ausfahrten. Wobei
man natürlich kritisch anmerken muss, dass die da in der Schweiz
mit den ganzen Pässen und der Begegnung mit der eigenen
Endlichkeit auf der Fahrt doch etwas übertreiben. Ein kurzes
Video von Teilen der Ausfahrt findet sich auf dem YouTube-Kanal
"Jagdhaus Helene" unter "Swiss Masonic Biker - 2020". 


Unter den Brüdern aus aller Welt in der Schweiz, welche auch
solche anderer maurerischer Motorradassoziationen wie der ‚Twelve
Low Raiders‘ und der ‚Widows Sons‘ umfassten, wurde mir von einem
Freund und Bruder, der die Initiative ergriffen hatte, am Ende
eines philosophischen Abends meine eigene Kutte mit vielen
Patches darauf geschenkt. Ich war so überrascht und überwältigt,
dass ich meiner Freude gar nicht richtig Ausdruck verleihen
konnte. Überreicht wurde sie mir mit der Aufforderung, sie in
Ehren zu halten. Das versicherte ich natürlich reflexhaft. Aber
was heißt das? Zu Beginn kam ich auf die Ehre bereits einmal zu
sprechen. Ich weiß sicher, was es nicht bedeutet. Einer meiner
Bikerfreunde aus früheren Tagen, Clubzugehöriger mit 2 Jahren
Gefängniserfahrung wegen schwerer Körperverletzung, den ich sehr
schätze, unter anderem, weil er so freundlich war, mich
regelmäßig zum Einkaufen zu fahren, hat mir dies gut deutlich
gemacht. Er war einmal in eine Auseinandersetzung mit Schießerei
verwickelt, in der es um nichts anderes gegangen ist als die
Colour, die Farben der Patches verschiedener Motorradclubs.


Und bei allem Respekt und bei aller Sympathie für Rocker, darin
liegt keinerlei Ehre und noch weniger Verstand. Wenn ich solche
Geschichten höre, wünsche ich mir fast, die Welt wäre für alle so
farblos wie für mich. Nun, Menschen, Maurer und Motorradfahrer
machen Fehler. Manchmal sind sie wirklich teuer. Was sehr schön
ist an der Menschheit, der Freimaurerei und den Motorradfahrern
ist, dass, wenn man es recht versteht, man sich in ihnen auf
einer fundamentalen Ebene der Menschlichkeit begegnen kann, die
auf einer starken Verbundenheit beruht, welche eine ausgeprägte
Individualität nicht ausschließt. Und diese Begegnung im
Menschsein umfasst auch die menschlichen Fehler. In ihr sind
dadurch Behinderungen nicht mehr, was sie erst im sozialen
Kontext werden, also Behinderungen. Und in ihr sind auch
Vorbestrafte nicht mehr vorverurteilt.


***


Egal woran man glaubt, egal wofür man politisch steht, egal
welche Erfahrungen und Möglichkeiten man mitbringt - auf der
Ebene der Menschlichkeit kann man sich immer bewegen. Das
einzige, wozu die Menschen bereit sein müssen ist, sich auf diese
Ebene zu begeben, auf der Ehre Humanität ist. Die Begegnung auf
menschlicher Ebene ist immer wertvoll, Wachstumsimpuls und
wunderbar. In der Freimaurerei begegnen wir einander auf der
Winkelwaage, auf gleicher Ebene, also ohne Berücksichtigung des
sozialen Status oder des Ansehens, die außerhalb der Königlichen
Kunst herrschen. In dieser Hinsicht ist die Freimaurerei
inklusiv. Davon wollte ich auf diesem Spaziergang erzählen. Ich
hoffe, dass es gelungen ist und dass Sie meine Begleitung bis
hierher haben genießen können.


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