Oblique Strategies: simple subtraction - Einfache Subtraktion

Oblique Strategies: simple subtraction - Einfache Subtraktion

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Beschreibung

vor 7 Monaten

In 1975 saßen Brian Eno (genau, der) und Peter Schmidt, ein
Multimediakünstler, beim Joint oder auf Pilzen oder was immer man
in der Richtung so machte in den Siebzigern. Der Peter
beschäftigte sich zu dieser Zeit mit alten Drucktechnologien,
Brian fiel gerade nix ein. Peter hatte gerade ein Set von 55
Drucken erstellt, mit so kurzen ganz superkünstlerischen Sätzen,
sehr deep und sehr teuer. Die inspirierten den Brian so sehr,
dass er sich selbst ein Set baute von 110 zusammenhanglosen
Worten und Sätzen auf spielkartengroßem Karton. Er nannte das Set
“Oblique Strategies”, es passte in eine Hosentasche und er trug
es überall mit hin, zum Beispiel in den Proberaum. Wenn ein Stück
nicht in Gang kam oder langweilig wurde oder gar kein Anfang zu
haben war, zog jedes Bandmitglied eine Karte und nahm den Spruch
darauf, wörtlich oder übertragen, als Anlass, “irgendetwas” zu
spielen. Der Rest fand sich.


Das probieren wir doch mal aus, dachten wir uns. Man kann heute
natürlich virtuell Karten vom Stapel ziehen. Die Regel ist, egal
was aufpoppt, dieser Satz wird genommen und ein Text geschrieben.


Für diese Kolumne ist es:


simple subtraction - Einfache Subtraktion


Mein fasziniertes, aber unglückliches Verhältnis zur Mathematik,
also der richtigen, dem Fachgebiet abseits vom simplen Zahlen
addieren und subtrahieren, begann mit einer 4 im
Halbjahreszeugnis der siebten Klasse. Ich war in den Augen meines
Vaters somit schwer versetzungsgefährdet und erfuhr eine
Ansprache, mit der er mir den Ernst der Lage verdeutlichen
wollte, so mit den ewigen Worten eines jeden Vaters ever: “..bald
weht der Wind aus einer anderen Richtung, solange Du deine Füße
unter unserem Tisch steckst, so kannst Du mit Deinen Freunden auf
dem Schulhof reden” - der ganze Sermon. Am Ende der Ansprache gab
es noch einen kleinen Bestechungsversuch: wenn ich zum
Schuljahresende die 4 in eine 3 verwandle, gäbe es irgendein
Geldgeschenk/Materielles Ding. Viel kann es nicht gewesen sein,
wir hatten ja gar nichts. Damals. Im Osten.


Die Predigt wirkte jedenfalls, kind of, habe ich mich doch sowohl
durch die 7. Klasse, als auch durch die Mathematikprüfung der
ostdeutschen polytechnischen Oberschule nach der 10. gehangelt,
keine Ahnung wie. Für ein Abitur reichte es dennoch nicht, so als
Verfolgter des Regimes eigenen Leistungsanspruches. Ich war
genötigt, mir die halbe Hochschulreife durch ein Kurzabitur
zu erschleichen, wie es das kurz nach dem Mauerfall im Osten gab.
Dieses Abi war einzig als Vorbereitung für technische
Studiengänge gedacht, mit der strikten Vorgabe, dass damit
keinerlei geisteswissenschaftliche Abschlüsse zu haben seien.
Mein Traum des Germanistikstudiums, Endstadium Lehrer, ging damit
glücklicherweise an allen Beteiligten vorbei.


Also studierte ich Informatik. Künstlerisch nicht
wirklich selbstbewusst, aber wage zugeneigt genug, um zu
wissen, dass das irgendwie funktionieren könnte, und ohnehin,
machen wir uns ehrlich, 1995, Techno/Drogen/Ecstasy, keine Rolle
spielend, entschied ich mich für das Studium der
Medien-Informatik - nicht dass irgendjemand gewusst hätte, was
das sein soll (heute wie damals). Doch es tauchte
ein klassisches Zonenproblem auf: die Hochschule für
Technik und Wirtschaft in Dresden (nur die war mit dem
Billigabitur erreichbar) hatte versprochen, diesen Studiengang
anzubieten. Kurz vor Beginn des Studienjahres jedoch stellt
man fest, dass man gar keine Professoren dafür habe. Was machte
man? Man steckte uns, der Kunst zugeneigte Bohémes, für das
erste Jahr in den Studiengang der, oh s**t, oh f**k,
Wirtschaftsinformatik! Mit den ganzen Bankangestellten,
Steuerberatern und sonstigen Christian Lindners also. Damit nicht
genug, hielt man uns, ich kann mich noch exakt und so genau
erinnern, wie an fast nichts aus dieser Zeit, einen Vortrag,
zu Studienbeginn, in der Aula, in dem man uns erklärte, dass man
gelernt hätte, dass in den USA jede Universität ein
Spezialgebiet habe: MIT, Berkeley, Stanford und jetzt also Auge
in Auge auch die HTW Dresden, Germäny. Man würde in den nächsten
Jahren besonders Augenmerk auf die mathematische Ausbildung der
Studenten legen (Studentinnen wurden damals, in den good old
times, noch nicht erwähnt).


Man hatte wohl eiligst zusätzliche Mathematikprofessuren
eingestellt, offensichtlich auf Kosten der Medienfuzzis, aber so
richtig Quali bekommt man da ja auch nicht sofort an den Start.
Ich durchlebte also in der ersten Semesterwoche des ersten
Semesters die erste Mathematikvorlesung meines Lebens: zwei
Stunden lang schrieb uns ein middle aged Professor mit grauem
Gesicht tatsächlich, ich weiß die Zahl noch heute,
104 Definitionen an die Tafel. Definitionen in winziger
Schrift schrieb der böse Mann von links nach rechts trippelnd
über die gesamten 25m Breite der Tafel, bevor er sie wieder
abwischte und auf der anderen Seite von vorn begann, wobei er
wohl erwartete, dass wir den ganzen Quatsch abschrieben. Nun, das
wars dann endgültig mit meiner Faszination für die Mathematik.


Bis ich auf dieses großartige Buch gestoßen bin:


Jan Gullberg, ein schwedische Kinderarzt, dreimal so klug
wie wir alle zusammen, hatte ungefähr die gleiche
Faszination für die Mathematik und wahrscheinlich eine noch
schlimmere entsprechende Bildung erfahren. Damit
seinen Kindern und die, die er verarztete, das nicht
passiere, schrieb er mal eben ein Buch über die ganze Mathematik,
von der Geburt der Zahlen bis wasweißichwohin,
Multidimenionalität und so, ich habe doch keine Ahnung! 1200
Seiten, 3 kg schwer, schrieb er das alles selbst, als Kinderarzt,
illustriert es, selbst, und zusammen mit einem britischen
Mathematiker, und, ein Wahnsinn, setzte es selbst, in LaTex! (Das
Entsetzen über den letzten Fakt verstehen nur nerds). Der Mann
muss verrückt gewesen sein, glücklicherweise.


Manchmal, ich gebe zu immer seltener, man hat ja kaum noch Zeit
Altes zu durchforsten, so viel Neues gibt es, setze ich mich in
meinen Ohrensessel und lese ein paar Seiten. Natürlich
verstehe ich nur die ersten 40, danach ist alles nur noch
Ästhetik. Aber es macht mich glücklich, wie etwas nur glücklich
macht, was man komplett ohne Leistungsanspruch tun kann:
Biertrinken, Schokoladeessen, Bingewatching, Fantasyromane lesen
und Mathematik bestaunen. Das ist Glück!


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