Gedanken am frühen Morgen - Täuschung durch Zufall

Gedanken am frühen Morgen - Täuschung durch Zufall

6 Minuten

Beschreibung

vor 5 Monaten

Es lebte zu dieser Zeit ein weiser Mann, ein in seiner Kunst sehr
erfahrener und hochberühmter Arzt, der als Prokonsul nach jenem
Wettstreite mit eigener Hand den Siegeskranz meinem irren Haupt
aufgesetzt hatte, freilich nicht als Arzt. Denn jene Krankheit
heilst du allein, der „du den Stolzen widerstehest, den Demütigen
aber deine Gnade gibst". Dennoch aber tratest du mir auch in
jenem Greise nahe und ließest meiner Seele Heilung zukommen, Denn
als ich ihm näher befreundet wurde und fleißig und aufmerksam
seinen Reden lauschte, die, einfach in den Worten, frische,
angenehme und bedeutsame Gedanken enthielten, erkannte er gar
bald, dass ich mich eifrig mit den Büchern der Nativitätssteller
beschäftigte, und ermahnte mich voll väterlicher Güte, sie
beiseite zu werfen und Zeit und Mühe, die wichtigeren
Beschäftigungen gebührten, nicht auf solche Nichtigkeiten zu
verwenden. Er selbst, sagte er, habe in frühester Jugend
denselben Unsinn zum Gegenstande seines Studiums gemacht, da er
durch ihn seinen Lebensunterhalt zu verdienen beabsichtigt habe,
und wenn er den Hippokrates verstanden habe, so habe er wohl am
Ende auch jene Schriften verstehen können; und doch habe er nur
deshalb später sie verlassen und sich dem Studium der Medizin
ergeben, weil er ihre ganze Nichtigkeit erkannt und als Mann von
Ehre seinen Lebensunterhalt nicht durch Täuschung seiner
Mitmenschen habe erwerben wollen. "Aber du", schloss er, "hast ja
ein Mittel für dein Fortkommen in der Rhetorik; jenen Betrug aber
treibst du nur zum Vergnügen und nicht aus Sorge ums tägliche
Brot. Umso mehr musst du mir in dieser Beziehung Glauben
schenken, da ich es mir einst allen Eifer kosten ließ, mich
gründlich darin zu unterrichten, um meine Existenz darauf zu
gründen". Als ich ihn aber fragte, wieso denn die Sterndeutekunst
so viele tatsächliche Erfolge aufweisen könne, antwortete er, so
gut er es eben konnte, das sei eine Wirkung von der überall im
ganzen Weltall vorhandenen Macht des Zufalls. Denn oft komme es
vor, dass jemand sich bei einem Dichter, der etwas ganz anderes
meine und beabsichtige, Rats erhole und auf den aufgeschlagenen
Blättern einen wunderbar zu der Angelegenheit passenden Vers
finde; so dürfe man sich auch nicht wundern, wenn aus der
menschlichen Seele auf höheren Antrieb, nicht durch Kunst,
sondern durch Zufall, so dass sie selbst nicht wisse, was in ihr
vorgehe, Worte herausklängen, die mit den Verhältnissen und dem
Vorhaben des Fragenden übereinstimmten.

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