Claire Keegan: Reichlich spät

Claire Keegan: Reichlich spät

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Beschreibung

vor 6 Monaten

Den meisten Menschen dürfte die Redewendung: „Geben ist seliger
denn Nehmen“, deren Herkunft auf die Bibel zurück geht, geläufig
sein und ebenso die Bedeutung dieses Satzes. Letztlich ist es
nichts anderes als die Aufforderung zur Großzügigkeit, die den
positiven Nebeneffekt haben kann, jemand anderem eine Freude zu
machen, an der man sich im besten Fall noch selbst erfreuen kann.
Es begab sich, dass ich kürzlich von einer Freundin einen
Gutschein für die örtliche Buchhandlung bekam, der ihr selbst
wenig nützlich war, da sie ausschließlich Hörbücher hört. Die
Freude meinerseits war natürlich groß, denn was gibt es schon
Besseres als kostenlose Bücher? Weit oben auf meiner Wunschliste
stand die kürzlich auf Deutsch erschienene, neue Erzählung der
irischen Autorin Claire Keegan Reichlich spät, die im Steidl
Verlag veröffentlicht wurde und gerade einmal 55 Seiten umfasst.
Don't judge a book by it's cover, so sagt man, aber schon die
Aufmachung der schmalen, als Hardcover gebundenen Ausgabe zog
mich magisch an und der Gutschein fand seine Bestimmung.


In ihrer neuesten Erzählung beschreibt uns Claire Keegan einen
Ausschnitt aus dem Leben ihres Protagonisten Cathal, der
Büroangestellter in Dublin ist und in der Nähe, einer kleinen
Stadt namens Arklow, lebt. Der Tag, um den sich die Handlung
dreht, sollte der Hochzeitstag von Cathal und seiner Verlobten
Sabine sein, die sich auf einer Tagung kennengelernt hatten.
Warum es zu dieser Hochzeit aber nicht kommt, wird anhand von
Cathals Erinnerungen rekonstruiert und legt letztlich viel mehr
frei, als das bloße Scheitern einer Beziehung.


Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass Sabine und Cathal sich
in Toulouse kennengelernt hatten und er sie – es hatte sich
herausgestellt, dass sie ebenfalls in Dublin arbeitet – zu sich
eingeladen hat. Sie verbringt schließlich den Großteil der
Wochenenden bei ihm, liebt das Leben auf dem Land, kocht gern und
es schwingt in allem ihrem Tun eine Leichtigkeit mit. Die
Entscheidung zu heiraten gleicht dann aber eher einem Beschluss
oder einer Verhandlung darüber, ob man es tun sollte oder nicht
und ist weit entfernt von einem Antrag oder hat gar etwas mit
Romantik zu tun. Es kommt beim Lesen auch nicht das Gefühl auf,
dass Liebe eine große Rolle in dieser Entscheidung spielt.


Grund dafür ist, dass Cathal ein kleingeistiger, geiziger und
frauenverachtender Spießer ist, der zwar das Bild von Mann und
Frau und einer heilen Welt mit Haus und Hof und am besten noch
Kind und Katze gern sieht, aber letztlich doch einfach gern seine
Ruhe hätte. Der es hasst, sich um den Abwasch zu kümmern, das ihm
gekochte Essen aber gern entgegennimmt. Der zwar gern hätte, dass
seine Verlobte bei ihm einzieht, dem aber am liebsten wäre, wenn
sie nicht so viel „Zeug“ aus ihrer alten Wohnung mitbringen
würde, denn das bedeutet ja, dass sich in seinem eigenen kleinen
Kosmos etwas verändert, ja verändern muss. Dass sie im wahrsten
Sinne des Wortes Raum für sich beansprucht. Ihm wäre am liebsten,
sie wäre einfach nur da und ansonsten bliebe alles wie gehabt. Er
ist jemand, der sich noch nach Wochen über den zu hohen Preis von
Kirschen echauffiert und der Frauen als Fotzen, Huren und
Schlampen bezeichnet, weil man als irischer Mann eben so redet.


Es drängt sich mir unweigerlich die Frage auf, was das, salopp
gesagt, eigentlich alles soll? Ein so gewaltiges Problem wie
Misogynie werde ich in meiner heutigen Rezension sicher nicht
lösen, also bleibe ich an dieser Stelle beim Protagonisten, dem
ja in der Erzählung selbst auch zumindest punktuell bewusst wird,
was geschieht. So reflektiert er beispielsweise an einer Stelle
seine Sprache, indem ihm klar wird: „[...]hatte er gesagt – und
sofort gespürt, wie der lange Schatten der Sprache seines Vaters
auf sein Leben fiel.“ (S.27) Es sind also teilweise anerzogene
Verhaltensmuster, über Generationen hinweg weitergegeben, die
sein Handeln, Denken und Sprechen beeinflussen – wie wir an einer
anderen Stelle an einem Exempel aus seiner Kindheit ebenfalls
noch einmal verdeutlicht bekommen – aber auch eine von der
Gesellschaft verinnerlichte Ablehnung gegen Frauen. Die wenigen
lichten Momente, in denen ihm der Gedanke kommt, dass es
vielleicht auch anders sein könnte, schiebt er jedoch direkt
wieder beiseite. Einen aus Erkenntnissen resultierenden Effekt,
nämlich den, sein Handeln zu verändern und auch sein Denken zu
hinterfragen, gibt es nicht. Seine Verlobte Sabine bringt es für
sich folgendermaßen auf den Punkt: „»Weißt du, was
Frauenfeindlichkeit im Kern ausmacht? Letzten Endes?« […] »Nicht
geben zu wollen« (S.43) Und damit ist nicht nur das Geben, das
selige Geben von materiellen Dingen gemeint, sondern auch das
Jemandem-etwas-zugestehen wie beispielsweise das Wahlrecht, das
sie an dieser Stelle selbst als Beispiel nennt.


Zu Recht wird Claire Keegan als Meisterin der kurzen Form
beschrieben, wie sie in Reichlich spät einmal mehr unter Beweis
stellt. Beeindruckend ist aber vor allem, wie sie es schafft auf
diesen wenigen Seiten eine ganze Welt zu erschaffen, die einem
während des Lesens regelrecht vor Augen steht und welch eine
Bandbreite an zwischenmenschlichen Konflikten sie zu beschreiben
vermag und dabei den Nagel so auf den Kopf trifft. Dabei ist kein
Wort zu viel oder wenig, aber alles von Bedeutung. Auch wenn es
überraschend scheint, so schafft es Claire Keegan doch ein
Spektrum an Themen in ihrer Erzählung zumindest anklingen zu
lassen, nämlich beispielsweise Machtstrukturen, Familie, aber
auch Einsamkeit und ging mir damit teilweise auch ziemlich ans
Herz. Dass ich ein Fan der Autorin bin, ist wohl deutlich
geworden und dass sie auch von anderen so gefeiert wird, finde
ich großartig. Zwar ging es dieses Mal nicht ohne Spoiler,
nichtsdestotrotz ist es Reichlich spät, auch mit diesem Vorwissen
absolut wert gelesen zu werden und eine ausdrückliche Empfehlung.
Selten habe ich einen Gutschein besser angelegt und möchte an
dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön dafür loswerden.


Wenn ihr mehr von mir und Claire Keegan hören und lesen möchtet,
findet ihr in unserem Archiv noch eine Besprechung zu ihrem Roman
“Kleine Dinge wie diese”.


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