Hiob in Prag

Hiob in Prag

Ohne das Judentum ist sein Werk undenkbar: Franz Kafka starb vor hundert Jahren
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Beschreibung

vor 6 Monaten

Er lernte Hebräisch. Er fühlte sich vom Zionismus angezogen und
wollte nach Palästina auswandern. Fast alle seine Freunde waren
Juden. Er war begeistert vom jiddischen Theater und hielt einen
Vortrag über die jiddische Sprache. Das assimilierte
Pro-Forma-Judentum seines Vaters verachtete er. Am 3. Juni 1924,
vor hundert Jahren, starb Franz Kafka.


 


Intensiv beschäftigte er sich mit dem Glauben des Volkes Israel.
Zugleich fragte er sich in seinem Tagebuch: „Was habe ich mit
Juden gemeinsam?“ Und antwortete: „Ich habe kaum etwas mit mir
gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, daß ich
atmen kann, in einen Winkel stellen.“


Franz Kafka, ein Jude unter Christen, ein Deutscher unter
Tschechen. Acht Prozent der Prager Bevölkerung sprachen um 1900
deutsch, und von diesen acht Prozent waren fast drei Viertel
Juden. Prag, wo er 1883 geboren wurde, war neben Wien „die große
Keimzelle der deutschen Literatur“ des 20. Jahrhunderts, schrieb
Walter Jens. In Prag begegneten sich böhmische, österreichische,
deutsche und jüdische Kultur.


Der „Winkel“, in den sich Kafka wie ein ungehorsames Kind stellen
wollte, „gab ihm die Perspektive eines präzisen Beobachters“,
erklärt die Germanistin Vivian Liska von der Universität
Antwerpen. Dieser Beobachter zeichnet zwar keine einzige Figur,
die als jüdisch erkennbar ist. Und doch: Jedes Buch, jede Zeile
redet vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Davon waren
jedenfalls die frühen Interpreten Kafkas überzeugt, allen voran
der Freund und Förderer Max Brod (1884-1968), für den Kafka „ein
Erneuerer der altjüdischen Religiosität“ war, „die den ganzen
Menschen, die sittliche Tat und Entscheidung des Einzelnen im
Geheimsten seiner Seele verlangt“. Und für die Philosophin
Margarete Susmann (1872-1966), die bereits 1929 den Essay „Das
Hiob-Problem bei Franz Kafka“ veröffentlichte, lag der
Zusammenhang mit dem Hiob der hebräischen Bibel auf der Hand.
Hiob ringt mit der Frage nach göttlicher Gerechtigkeit, Kafkas
Gestalten ebenfalls. Doch Hiob, obwohl sich sein Leid einer
Erklärung entzieht, wird am Ende von Gott, den er nicht begreift,
in Gnaden angenommen. Er weiß, dass sein Erlöser lebt. Diese
tröstliche Zuversicht fehlt Kafkas Figuren. In der Parabel „Vor
dem Gesetz“, die in den Roman „Der Prozess“ eingefügt ist, wird
einem Mann der Eintritt in das Gesetz versagt, sein Leben lang
wartet er vergeblich. Margarete Susmann: „Im Herzen dieses
unheimlichen und qualvollen Traumgespinstes, das unser Leben ist,
steht das Hiobproblem des Leides und der Schuld. Aber der
Zusammenhang zwischen Leid und Schuld ist […] vollkommen
unbegreiflich geworden.“ Der Einzelne kann seiner Schuld nicht
entrinnen: „Diese Schuld ist gesetzt damit, daß Gott sich von uns
zurückgezogen hat und daß wir in dem Zusammenhang mit ihm auch
den Zusammenhang mit uns selbst und mit der Welt verloren haben,
dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen.“


Für Kafka war das Schreiben quälend und befreiend zugleich.
Nachts hat er geschrieben, tagsüber arbeitete der promovierte
Jurist in seinem „Brotberuf“ – durchaus anerkannt und erfolgreich
– für die „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das
Königreich Böhmen“. Er litt, wenn er nicht zum Schreiben kam.
Schrieb er, strömte es aus ihm heraus, doch das Leiden blieb auch
dann nicht aus: Er zweifelte zeitlebens an der Qualität und
Bedeutung seiner Werke. Ohne den Freund Max Brod, der als
Literaturagent aktiv war und erfolgreich mit Verlagen
verhandelte, wäre zu Kafkas Lebzeiten sehr viel weniger aus
seiner Feder veröffentlicht worden.


Von den dichterischen Aktivitäten seines Sohnes hielt Franz
Kafkas Vater gar nichts. Hermann Kafka, der sich aus einfachsten
Verhältnissen nach harter Jugend zum wohlhabenden Geschäftsmann
in Prag emporgearbeitet hatte, wurde von Franz als tyrannisch,
brutal und ungerecht empfunden. Von der Stärke, Gesundheit,
Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer,
Geistesgegenwart, die der Dichter seinem Erzeuger in dem
berühmten „Brief an den Vater“ (1919) attestiert, hat er nach
eigenem Empfinden selber nichts. Kein Wunder, dass ihn oft ein
„Gefühl der Nichtigkeit“ beschlich; jämmerlich kam er sich vor,
„und zwar nicht nur vor dir, sondern vor der ganzen Welt, denn du
warst für mich das Maß aller Dinge“. Der 103 handschriftliche
Seiten umfassende Brief ist ein autobiografisches Prosastück
ersten Ranges. Er hat ihn nie abgeschickt oder übergeben. 


Vernichtend äußert er sich über das Judentum des assimilierten
Vaters, dessen Muttersprache Tschechisch war und der seine Kinder
in Prag in deutsche Schulen schickte. Im Judentum hätten sich
Vater und Sohn doch finden können, schreibt Franz Kafka: „Aber
was war das für Judentum, das ich von Dir bekam!“ Gähnende
Langeweile in der Synagoge, eine „Komödie mit Lachkrämpfen“ der
häusliche Sederabend zum Passahfest. Das bittere Urteil des
Sohnes über die Religion des Vaters: Sein Glaube habe darin
bestanden, dass er an die unbedingte Richtigkeit der Meinungen
einer bestimmten Gesellschaftsklasse – die assimilierten Prager
Juden – glaubte „und eigentlich also, da diese Meinungen zu
deinem Wesen gehörten, Dir selber glaubtest.“ Franz Kafka
begeisterte sich für das jiddische Theater aus Polen und
freundete sich mit einem seiner Schauspieler an, Jizchak Löwy.
Hermann Kafka nannte ihn „Ungeziefer“ – und „zu einem ungeheueren
Ungeziefer verwandelt“ sieht sich Gregor Samsa, der Protagonist
in Franz Kafkas berühmtester Erzählung „Die Verwandlung“
(1915). 


 

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