Beschreibung

vor 2 Monaten

Rainer Maria Rilke schrieb sein Gedicht "Herbst" im Jahr 1902.
Das Gedicht, bestehend aus nur vier Kurz-Strophen, ist ein
eindrucksvolles Beispiel für Rilkes Fähigkeit, tief empfundene
Stimmungen und universelle Themen in einer klaren und
konzentrierten Form zu verdichten.


Dabei geht das Gedicht von einer jahreszeitlich typischen
Szenerie, dem Fallen von Blättern im Herbst, aus. Dieser Fall
dient dem Gedicht als zentrale Metapher eines Vergehensprozesses,
dessen Bedeutung im weiteren Fortgang des Textes konsequent
ausgeweitet wird. Schon im zweiten Vers eröffnet das Gedicht eine
metaphysische Dimension, wenn es beschreibt, der Fall der Blätter
scheine aus den "Himmeln" herzurühren.


Von der Darstellung eines Falls der Blätter geht das Gedicht über
zu einer Beschreibung eines Falls des Planeten Erde, dessen
Bewegung durchs All ebenfalls als ein solcher kontinuierlicher
"Fall" gedeutet wird. In diesem, einem kosmischen Himmel,
vollzieht sich der Vergehensprozess, dem die Erde unterworfen
ist, in scheinbar gottverlassener "Einsamkeit".


In der Folge fokussiert das Gedicht vom Großen des Kosmos auf das
Kleine des einzelnen Menschen - auch ihm ist der "Fall" wie zuvor
schon den Blättern und dem Planeten eingeschrieben. Metonymisch
repräsentiert durch die fallende "Hand", die als Sinnbild
menschlicher Tätigkeit und Schaffenskraft steht, konfrontiert das
Gedicht den Leser mit der eigenen Sterblichkeit. Zugleich ist der
Strophe ein erstes Trostmoment eingeschrieben, wenn es durch die
Verwendung des Personalpronomens "Wir" eine doch immerhin einende
Schicksalsgemeinschaft aller Menschen andeutet.


Mag dieser Befund als eher schwacher Trost durch den Text des
Gedichtes durchscheinen - wiewohl ihm Ansätze eingeschrieben
sind, die Keimzelle einer Ethik der Vereinigung sein können -,
bricht dieser Schein in der letzten Strophe zum bestimmenden
Gedanken durch. Hier führt das Gedicht eine göttliche oder
transzendente Kraft ein, die das Fallen auffängt und in einem
größeren Zusammenhang hält. Diese letzte Zeile bietet Anlass zu
einer metaphysischen Hoffnung, dass trotz der unausweichlichen
Vergänglichkeit eine sanfte, behütende Macht existiert. Auffällig
ist das Wiederaufgreifen des Motivs der "Hand", nun einer
auffangenden statt einer fallenden Hand, durch die die
Vorstellungen von Vergänglichkeit und Ewigkeit miteinander in
Kontakt gebracht werden.


Ebenfalls eine Einladung zur Deutung stellt die Beobachtung dar,
dass sich der Plural der "Himmel" (V.1) und das Singular des
"Einen" (V.9) gegenüberstehen. Ein Ansatz kann hier sein, die
unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs "Himmel" im Deutschen
zu reflektieren und sie als Repräsentanten verschiedener
Perspektiven auf die Welt zu verstehen. Während sich im
kosmologisch-naturwissenschaftlich begriffenen "Himmel" der Fall
der Erde als einsam darstellt, eröffnet die religiöse Bedeutung
des Begriffes die Trostperspektive, mit der das Gedicht schließt.


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