Episode 21: Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Episode 21: Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts

42 Minuten

Beschreibung

vor 5 Monaten
Falko Schmieder und Georg Toepfer (beide ZfL) sprechen über das
Lexikon »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«, das seit 2024
kontinuierlich im Open Access im Schwabe Verlag erscheint. Die
Einträge analysieren politisch-soziale und kulturelle
Schlüsselwörter des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive
verschiedener Disziplinen und ermöglichen es so, die Veränderungen
kollektiver Einstellungen und politischer Anschauungen
nachzuvollziehen. ———————— Wer über Begriffsgeschichte spricht,
kommt um die »Geschichtlichen Grundbegriffe« nicht herum. Trat das
maßgeblich vom Historiker Reinhart Koselleck verantwortete
gleichnamige Lexikon noch mit dem Anspruch an, Großthesen wie die
von der Sattelzeit um 1800 zu bestätigen, verfolgen Falko Schmieder
und seine Mitherausgeber:innen einen offeneren Ansatz. Sie
interessieren sich nicht mehr (nur) für den literarischen und
theoretischen Höhenkamm, sondern vor allem für den populären
politischen Sprachgebrauch und konsultieren vermehrt Alltagsmedien
wie Zeitschriften. Eine weitere Besonderheit des Lexikonprojekts
ist seine Interdisziplinarität, die sich bereits an den drei
beteiligten Instituten zeigt. Während am IDS in Mannheim
Grundbegriffe großer Reichweite und Dauer wie Demokratie oder
Kapitalismus in den Blick genommen werden, liegt der Fokus am ZZF
in Potsdam auf Zeit- und Prozessbegriffen wie Fortschritt und
Innovation. Diese hatten insbesondere in der politischen
Umbruchszeit um 1970 Konjunktur, ebenso wie Netzwerk und weitere
Begriffe aus dem Bereich der Computer- und Informationstechnologie.
Im Zentrum der begriffsgeschichtlichen Forschung am ZfL stehen
Begriffe wie Globalisierung, die neben einem veränderten Welt- und
Zeitverhältnis auch eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung der
(politischen) Sprache anzeigen. So untersucht Georg Toepfer, wie
sich Diversität im Laufe des 20. Jahrhunderts von einem
biologischen Terminus zu einem normativen Konzept entwickelt hat,
das aus gesellschaftspolitischen Debatten nicht mehr wegzudenken
ist. Solche Wanderbewegungen zwischen Disziplinen und
Diskursdomänen zeichnen die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts
allgemein aus, wobei der Sprachgebrauch oft in Spannung zu den
gewohnten historiografischen Periodisierungen steht. Die
Untersuchung von im Nationalsozialismus bedeutsamen Begriffen legt
auch deren teils weit zurückreichenden Vorgeschichten sowie ihren
Fortbestand in der Nachkriegszeit offen. Aus heutiger Sicht erklärt
die nationalsozialistische Vergangenheit außerdem einige
Auslassungen in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«. Dazu gehört
der Begriff der Grenze, der zwar im 19. Jahrhundert eine zentrale
Rolle spielte, aber in der nationalsozialistischen Grund- und
Bodenideologie und Ostpolitik zum Kampfbegriff geworden war. Der
rasante Bedeutungs- und Konjunkturwandel von Begriffen im 20. und
21. Jahrhundert wirft schließlich die Frage auf, ob es für eine
Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu früh ist, ihre
Verfasser:innen nicht selbst noch zu gefangen in ihm sind. Hier
zeigt sich der Vorteil der Begriffsgeschichte als
quellengesättigter Wissenschaft. Denn die durch sie zutage
geförderten Belegstellen sind auch unabhängig von der spezifischen
Perspektive und Deutung, die ein Lexikoneintrag einnimmt, von
historischem Wert. Eine quantitative wie qualitative Neuerung
bringen dabei für die Begriffsgeschichte entwickelte digitale
Werkzeuge, die es erlauben, in bislang unbekanntem Maß umfassende
Textkorpora zu erschließen. ———————— Der Kulturwissenschaftler
Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert
in Grundbegriffen« am ZfL. Er war zuvor u.a. wiss. Mitarbeiter im
Projekt »Theorie und Konzept einer interdisziplinären
Begriffsgeschichte«. Der Biologe und Philosoph Georg Toepfer ist
Ko-Leiter des Programmbereichs Lebenswissen am ZfL und leitet dort
die Projekte »Diversität. Begriffe, Paradigmen, Geschichte« und
»Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der
Naturwissenschaften«. www.zfl-berlin.org

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