Mut zum Verstand
Immanuel Kant: Die Ideen des großen Philosophen der Aufklärung
prägen die Welt bis heute.
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Beschreibung
vor 4 Monaten
Das klingt nach Utopie: „Zum ewigen Frieden“. Als Immanuel Kant
1795 unter diesem Titel seinen „philosophischen Entwurf“
veröffentlichte, war er längst ein berühmter Mann. Sein Hauptwerk
war erschienen und hatte das philosophische Denken, weit über
Deutschland hinaus, revolutioniert. Nun also, mit 71 Jahren,
griff er nochmals zur Feder und bot seinem Verleger ein Werk an,
das ihm bald den Vorwurf der Träumerei einbrachte, doch
gleichwohl ein durchschlagender Erfolg wurde.
Wer auch nur die kurze Vorbemerkung liest, erfährt: Es geht hier
nicht um einen utopischen Friedenstraum. Die Überschrift ist
satirisch, erklärt der Autor. Er hat sich dazu von einem
Wirtshausschild anregen lassen, worauf ein Kirchhof gemalt war.
Ewiger Friede käme demnach erst nach dem Tod.
Kant, der sein Leben bisher eher abstrakten Ideen und Prinzipien
gewidmet hat, wird nun höchst konkret. Er entwickelt die
Grundlagen für einen wirklichen, dauerhaften Frieden zwischen den
Staaten. Dazu muss sich die Politik der Idee des Rechts
unterordnen: Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden,
der herrschenden Gewalt mag es noch so große Aufopferung kosten.
Am 5. April 1795 hatte Preußen mit dem revolutionären Frankreich
einen Sonderfrieden geschlossen und war damit aus dem Kreis der
europäischen Staaten ausgeschieden, die Frankreich nach dem Sturz
der Monarchie bekämpften. Der preußische Untertan Kant nutzte die
Gunst der historischen Stunde und proklamierte als Voraussetzung
für eine Friedensordnung: Die bürgerliche Verfassung in jedem
Staate soll republikanisch sein.
Ein solcher Staat ist für Kant eine Gesellschaft von Menschen,
über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten habe. Der
Staat ist also kein Instrument der Herrschaft, sondern dient der
gesellschaftlichen Selbstbestimmung: eine zur Zeit des
Absolutismus erstaunlich moderne Auffassung.
Grundvoraussetzung für dauerhaften Frieden ist: Es soll kein
Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen
Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden:
Ein bedingter Friede trägt den Keim neuer Feindseligkeiten in
sich. Ebenso darf die Souveränität eines Staates – klein oder
groß, das gilt hier gleichviel – nicht zerstört werden.
Konkurrierende militärische Hochrüstung ist verboten, denn sie
bedroht andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die
Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen und reizen diese
an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen
kennt, zu übertreffen. Ein weiteres Friedenshindernis sind
gewaltsame Interventionen: Kein Staat soll sich in die Verfassung
und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen. Und
schließlich gelten auch im Krieg Regeln: Verboten ist alles, was
das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen
muss, etwa politischer Terrorismus oder Kapitulationsbruch. Hier
deutet sich bereits der Grundgedanke der Genfer Konvention an.
Kant entwickelt sein rechtsphilosophisches Friedensmodell auf
drei Ebenen: Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht. Die
republikanische Verfassung mit Gewaltenteilung ist die
staatsrechtliche Voraussetzung. Als völkerrechtliche Grundlage
sieht er einen Bund von souveränen Staaten: Das Völkerrecht soll
auf einem F ö d e r a l i s m freier Staaten gegründet sein. Dazu
führt er den Begriff „Völkerbund“ ein. Auf globaler Ebene
schließlich soll ein wechselseitiges „Besuchsrecht“ für alle
Menschen gelten, die endlich sich doch nebeneinander dulden
müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein
mehr Recht hat, als der andere. Dazu passt als weitere
Voraussetzung ein striktes Verbot von Ausbeutung und
Kolonialismus. Denn eine Rechtsverletzung irgendwo auf der Erde
wird an allen gefühlt, sagt Kant: so ist die Idee eines
Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte
Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des
ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum
öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen
Frieden.
Die kleine Schrift hat die Form eines Friedensvertrags. Mit
diesem Kunstgriff, „durch das ironische Moment der Imitation“,
widerspreche Kant der Meinung, er werde nun zum Praktiker der
Politik, erklärte dazu der bedeutende Kantforscher Rudolf Malter
(1937-1994).
Immanuel Kant lebte in kriegerischen Zeiten. Er machte sich keine
Illusionen über den „ewigen Frieden“. Dennoch wurde sein Versuch,
„konkrete politische Überlegungen mit einer systematischen
rechtsphilosophischen Reflexion zu verbinden“ (Rudolf Malter),
eines der einflussreichsten philosophischen Werke überhaupt. Als
der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 sein
14-Punkte-Programm für eine Friedensordnung nach dem Ersten
Weltkrieg vorlegte, war er von Kant inspiriert. Der
Friedensvertrag von Versailles dagegen trug den Stoff zu einem
künftigen Kriege in sich und ist ein historisches Gegenbeispiel.
Der 1920 gegründete Völkerbund führte immerhin zu einer –
vorübergehenden – Annäherung der Erbfeinde Frankreich und
Deutschland. 1946 ging aus dem Völkerbund die UNO hervor. Auch
deren Charta ist von Kant beeinflusst: das Selbstbestimmungsrecht
der Staaten, die Nichteinmischung, die souveräne Gleichheit der
Nationen und das allgemeine Gewaltverbot sind von ihm vorgedacht.
Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg wie Hitlers Überfall auf
Polen (1939) war ein krasser Widerspruch zu Kants
Rechtsphilosophie – mit verheerenden Folgen.
Kant glaubte, dass der im Menschen angelegte wechselseitige
Eigennutz, der zum Handelsgeist führt, den Krieg zumindest
erschweren würde: Staaten, die miteinander Handel treiben,
bekämpfen sich nicht militärisch. Diese optimistische
Grundannahme hält der Realität nicht stand: Wirtschaftskriege
gibt es schon lange. Doch die deutsche Politik baute noch 2014,
nach der Besetzung der Krim und des Donbas, darauf, dass die
wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland ein
Stabilitätsfaktor seien. Nach Putins Angriff auf die gesamte
Ukraine 2022 erwies sich diese Hoffnung endgültig als trügerisch.
Zugleich wurde beklemmend deutlich, dass der Zustand des Kalten
Krieges kein Friede im Sinne des Königsberger Philosophen gewesen
war.
Wahrheit, Lüge und Vernunft
Immanuel Kants Ethik in Zeiten von Fake News und
Verschwörungsfantasien
Gelogen wurde schon immer. Lange bevor Begriffe wie „Fake News“
oder „alternative Fakten“ in den deutschen Sprachgebrauch
eingegangen sind, gab es Lügen, Halbwahrheiten, Fälschungen. Lug
und Trug wurden immer wieder als scheinbar probates Mittel der
Herrschaftstechnik eingesetzt.
Immanuel Kant hielt die Behauptung falscher Tatsachen in jeder
Hinsicht für verkehrt: aus Gründen der Vernunft. Seine Ethik
beruht ebenso auf Vernunft wie ein Satz der Mathematik oder eine
chemische Formel.
Jeder Mensch muss täglich Entscheidungen treffen, oft von großer
Tragweite. Da jeder Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, soll
er ausschließlich Entscheidungen treffen, die man jedem anderen
vernünftigen Wesen ebenso zubilligen kann. Denn: „Nur ein
vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der
Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen“,
sagt Kant: „Da zur Ableitung der Handlungen von den Gesetzen
Vernunft erfodert wird, so ist der Wille nichts anders, als
practische Vernunft.“
Vernünftige Begründungen für das Handeln sind dabei niemals nur
im Einzelfall gültig. „Aus sich eine Ausnahme zu machen, sich
selbst etwas herauszunehmen, das dabei notwendig voraussetzt,
dass andere dasselbe nicht tun: Das ist Kants Ethik zufolge so
etwas wie der Kern der Unmoral“, sagt der Philosoph Tim Henning
von der Universität Mainz.
Moralische Entscheidungen orientieren sich also an dem, was für
alle gilt: Wer zu einer Gemeinschaft von vernünftigen Wesen
gehört, trifft nur solche Entscheidungen, die jedes Mitglied
dieser Gemeinschaft ebenso treffen könnte. Tim Henning: „Jedes
Glied dieser Gemeinschaft gestaltet jede seiner Entscheidungen
so, dass er sie auch um der gleichen Freiheiten der anderen
willen bejahen kann.“ Denn wenn es um die Freiheiten aller geht,
bin ich eingeschlossen. Dies ist der Grund für moralische Regeln,
zum Beispiel: nichts Falsches versprechen, nicht lügen, nicht
betrügen.
Solche Moral bestimmt über uns – und das bedeutet für Kant nichts
anderes als: Wir bestimmen selbst über uns. Wir brauchen keine
weitere externe verbindliche Quelle, die erklärt, warum und wie
die Moral über uns bestimmen darf. Kant sagt: „Und was ist es
denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Moral
berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts geringeres
als der Antheil, den sie dem vernünftigen Wesen an der
allgemeinen Gesetzgebung verschafft.“ Die gleichen Freiheiten
also aller vernünftigen Wesen sind der entscheidende Maßstab für
eine Handlung.
Damit sind die Voraussetzungen für Kants berühmten kategorischen
Imperativ gegeben, den er mehrfach formulierte. Die wohl
genaueste Fassung lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines
Gesetz werde.“ Es ist hier also „die wechselseitige Anerkennung
unserer gleichen Ansprüche auf Freiheit artikuliert.“ (Tim
Henning)
Das Prinzip, auf dem das aufbaut, ist sehr alt. Es findet sich
bereits in der sogenannten Goldenen Regel, die von Jesus in der
Bergpredigt überliefert ist: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch
die Leute tun, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7,12). Dieser
Grundsatz kommt im Judentum, in vielen anderen Religionen und
sprichwörtlich in negativer Fassung vor: „Was du nicht willst,
dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Nicht lügen – in diesem Punkt war der alte Kant besonders streng.
Mit 73 Jahren veröffentlichte er den Aufsatz „Über ein
vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (1797). Jede
Aufweichung des Lügenverbots führt demnach zwingend dazu, „dass
Aussagen überhaupt keinen Glauben finden“. Wer lügt, macht sich
unglaubwürdig und wird diesen Makel so schnell nicht mehr los.
Und: Wer lügt, „missbraucht das ihm entgegengebrachte Vertrauen
und verhält sich zur sozialen Norm parasitär“, sagt Geert Keil,
Professor für Philosophische Anthropologie in Berlin.
Aber auch eine Notlüge „aus Menschenliebe“ ist für Kant nicht
zulässig. Selbst in einem extremen Fall hält er mit
bedingungslosem Rigorismus an der Regel fest: „Die Lüge gegen
einen Mörder, der uns fragt, ob unser von ihm verfolgter Freund
sich nicht in unser Haus geflüchtet, [wäre] ein Verbrechen“. Also
nicht einmal um das Leben eines Unschuldigen zu retten, ist eine
Unwahrheit erlaubt. Diese Position wurde mit Recht als
„abstoßend“ und „moralisch haarsträubend“ bezeichnet. Eine
Möglichkeit, mit der Wahrheit in extremen Situationen umzugehen,
schlägt der Kant-Forscher Marcus Willaschek (Frankfurt) vor: „Ich
will nicht lügen, es sei denn, die Lüge ist das einzige Mittel,
um ein großes Unrecht zu verhindern, und verletzt keine
berechtigten Interessen anderer.“
Wer aber die Lüge zum Herrschaftsprinzip macht, erhebt sich über
die Menschen, die sich ihres eigenen Verstandes nicht bedienen.
Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784)
beginnt mit der bekannten Definition: „Aufklärung ist der Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Er
findet deutliche Worte: Die Vormünder, die die Oberaufsicht über
diejenigen „gütigst übernommen haben“, die aus Faulheit und
Feigheit gerne unmündig bleiben und „das verdrießliche Geschäft“
des Denkens anderen überlassen, haben „ihr Hausvieh zuerst dumm
gemacht“, um es dann am Gängelband zu führen. „Es ist so bequem,
unmündig zu sein.“
Das trifft heute zum Beispiel in den USA auf die Anhänger von
Trump zu, deren Gefolgschaft nur mit Realitätsverweigerung zu
erklären ist. Anders liegt der Fall bei Putin: Nur durch Gewalt
und Terror gegen die eigene Bevölkerung kann er seine auf Lügen
gebaute Herrschaft aufrechterhalten. Sogar vor Immanuel Kant
macht das Zurechtbiegen der Wahrheit nicht halt: Der größte Sohn
Königsbergs, heute Kaliningrad, wird zum 300. Geburtstag ohne
Rücksicht auf die Fakten vereinnahmt, gar als Landsmann
bezeichnet, denn die Stadt war ab 1758 fünf Jahre russisch
besetzt. Der Vordenker des Völkerrechts, der die gewalttätige
Einmischung eines Staates in Verfassung und Regierung eines
anderen Staates klar verurteilte, wird schamlos
instrumentalisiert – von dem Diktator, der einen
völkerrechtswidrigen Krieg angezettelt hat. Russland, so heißt es
in einer Presseerklärung des Wissenschaftsministeriums, bleibe
Kant, anders als viele westliche Länder, als „Verteidiger echter
Zivilisationswerte“ treu.
Kant, die Weißen und die Wilden
Wie konnte sich der Philosoph der Aufklärung zu
rassistischen Urteilen versteigen? Versuch einer
Erklärung
„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race
der Weißen.“ Wie passt dieser Satz zu den universalen
Menschenrechten, zur Freiheit und Gleichheit aller, zu der
aufklärerischen Überzeugung, Menschen dürften nicht wie
Gegenstände instrumentalisiert werden? Und doch: Immanuel Kant
sah nicht nur die „weiße Rasse“ als die vollkommenste an. Er
klassifizierte auch zum Beispiel Inder als weniger talentiert,
weit tiefer noch stünden Menschen mit schwarzer Hautfarbe, „und
am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften“.
In seinen Vorlesungen zur Anthropologie (1790-1792) beschrieb er
die „kupferfarbenen Wilden in Amerika“ als „ohne Leidenschaften
und Affekte, kultur- und lieblos, faul und wortkarg“. Ihre
Freiheit sei „nicht zivilisiert, sondern tierisch“. Die „Rasse
der Neger“ sah er als „lebhaft, schwatzhaft und
leidenschaftlich“, aber arbeitsscheu und „ohne eigenen
Bildungstrieb“.
Diese Aussagen beruhen auf Mitschriften nach Vorlesungen des
Königsberger Professors, die später von anderen herausgegeben
wurden. Lassen sie sich damit erklären oder entschuldigen, dass
er ein Kind seiner Zeit war? Oder verbirgt sich hinter dem
strahlenden Licht der Aufklärung ein tiefsitzender Rassismus? Ist
Kants Philosophie der Vernunft mit ihrer Betonung des
selbständigen Denkens und der zutiefst humanen kosmopolitischen
Friedenshoffnung nur eine Maske der Menschenverachtung eines
überheblichen Europäers?
Diese Vorwürfe postkolonialer Denker kamen in den 1990er-Jahren
auf. Kant und andere Aufklärer wurden für die kolonialistischen
und imperialistischen Machtsysteme verantwortlich gemacht, mit
denen die europäischen Nationen die Völker in anderen Teilen der
Welt grausam unterdrückten. „Man solle Kant vergessen, diesen
Rassisten, der mit doppelter Zunge sprach!“ So beschreibt
treffend Manfred Geier, Kant-Biograf und Publizist, die
Forderung, in der solche Anklagen gipfeln.
Doch ist die Frage „War Kant ein Rassist?“, die im Jubiläumsjahr
oft gestellt wird, überhaupt sinnvoll? Nein, findet Andrea Marlen
Esser, Professorin für Philosophie in Jena. Die Beschäftigung
damit dürfe sich nicht allein auf Personen konzentrieren, denn
Rassismus sei keine Entgleisung von Individuen, sondern eine
gesellschaftlich tief verankerte Ideologie. Die Frage könne zum
Gefühl moralischer Überlegenheit verleiten. „Doch indem wir das
Phänomen des Rassismus individualisieren, historisieren wir es
zugleich“, so Esser: „Rassismus erscheint dann bloß als ein
Problem historischer Personen und wird auf diese Weise von uns
distanziert.“
Zu Kants Zeit wurde die Frage nach den „Menschenrassen“ durchaus
kontrovers diskutiert. Berichte von Forschungs- und
Entdeckungsreisen rund um die Welt stießen auf großes Interesse
beim europäischen Lesepublikum. Der schwedische Naturforscher
Carl von Linné entwickelte nicht nur eine Ordnung der Pflanzen
und Tiere, sondern unternahm auch den ersten Versuch, Menschen
systematisch in Rassen einzuteilen. Kants Einteilung, erstmals
dargelegt 1775 in der Vorlesung „Von den verschiedenen Racen der
Menschen“, war zunächst von dem Interesse geleitet, eine
Gesetzmäßigkeit zu erkennen hinter der Vererbung äußerer Merkmale
wie Haut- und Augenfarbe. Er wollte eine wissenschaftliche
Definition des Begriffes „Rasse“ entwickeln, gegründet auf
biologische Kriterien.
Einer der Forscher, die ihre Positionen auf eigene Anschauung
bauen konnten, war Georg Forster, der 1772 bis 1775 mit Captain
James Cook um die Welt gesegelt war. Er widersprach dem
sesshaften Königsberger Professor, der alles schon im Voraus
wisse und die Natur nach seinen Vorstellungen „modeln“ wolle.
Forster dagegen war überzeugt: „die Ordnung der Natur folgt
unseren Eintheilungen nicht, und sobald man ihr dieselben
aufdrängen will, verfällt man in Ungereimtheiten.“ Er sprach
lieber von mannigfachen „Varietäten“ der Menschheit statt von
„Rassen“. Und weil er in den Schwarzen „Brüder“ sah, klagte er
die Sklaverei bitter an.
Damit war er nicht allein: Besonders der Handel mit schwarzen
Menschen stieß unter den Aufklärern auf wachsenden Widerstand.
Die 1787 in London gegründete Society for Effecting the Abolition
of the Slave Trade und die ein Jahr später entstandene
französische Société des Amis des Noirs (Gesellschaft der Freunde
der Schwarzen) kämpften für die Abschaffung des Sklavenhandels.
Sie gewannen auch in Deutschland Einfluss. Auch Kant, der bis
dahin die Rassenhierarchie verteidigt hatte, verurteilte in
seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) Kolonialismus und
Ausbeutung.
Gayatri C. Spivak hält nichts davon, Kant einfach als Rassisten
abzustempeln. Die Professorin für Literaturwissenschaft an der
Columbia University in New York gilt als eine maßgebliche
Vertreterin der postkolonialen Theorie. In ihrem Buch „Kritik der
postkolonialen Vernunft“ (2013) hat sie Kant dafür kritisiert,
dass er die „Wilden“ nicht als Menschen betrachtet, weil diese
nicht die Eigenschaften eines voll entwickelten Menschen hätten.
„Kant ist so viel klüger als wir und doch wurde er durch den
Kapitalismus und den Kolonialismus verdorben.“ Zugleich verweist
sie aber auch auf außereuropäischen Rassismus, etwa bei den
Hindus. Es reicht ihrer Meinung nach nicht aus, „lediglich mit
dem Finger auf den Kolonialismus zu zeigen und zu sagen, wir sind
gut und die anderen sind böse“. Korruption und Machtspiele habe
es schon immer gegeben. „Wenn wir den Kolonialismus nur
rassifizieren, vergessen wir unsere eigenen Rassismen.“
Stattdessen plädiert Spivak dafür, von Kant zu lernen, um sich
seinen Universalismus wieder nutzbar zu machen. Denn dieser, also
die Idee von der universalen Geltung menschenrechtlicher und
anderer Standards, sei notwendig, „um Konzepte wie Demokratie
oder Ethik überhaupt denken zu können.“
Doch die Frage bleibt: Wie konnte sich Immanuel Kant dazu
versteigen, die Überlegenheit der Weißen so grobschlächtig zu
behaupten? Einerseits sind seine rassistischen Aussagen in den
anthropologischen Vorlesungen unautorisierte Mitschriften.
Andererseits: „Seine Vernunftphilosophie kannte keine Rassen,
sondern nur das menschliche Subjekt in universalistischer
Perspektive“, gibt Manfred Geier zu bedenken. Kant war nicht
unfehlbar. Will man sein Werk fruchtbar machen, ist der eigene
Verstand zwingend notwendig.
Vernunft als Religion – Religion aus Vernunft
Ein gütiger Schöpfergott sorgt dafür, dass sich die Moral
am Ende durchsetzt, glaubte Immanuel Kant
Fromm war er nicht. Obwohl aus einem pietistischen Elternhaus
stammend, glaubte er nicht an einen persönlichen Gott. Eine
Praxis Pietatis mit regelmäßigem Gebet war ihm fremd, in die
Kirche ging er selten.
Dennoch war Immanuel Kant kein Gegner der Religion und des
christlichen Glaubens. Nicht nur in seiner Schrift „Die Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793/94) legte er
dar, dass und warum die Welt letzten Endes als vernünftige
Ordnung gedacht werden soll, in der das Gute herrscht, also ein
vollständig moralischer Zustand erreicht ist: Nur Gott kann für
diese vernünftige Ordnung sorgen. Wer die Existenz Gottes und der
unsterblichen Seele für wahr hält, widerspricht also nicht der
Vernunft, im Gegenteil. Zwar lässt sich Gott nicht beweisen, aber
die Vernunft spricht dafür, dass es einen gütigen Schöpfer gibt.
Denn nur deshalb, so der Kant-Biograf Marcus Willaschek, „dürfen
wir hoffen, dass unsere moralisch notwendigen Bemühungen um
verdientes Glück, Gerechtigkeit und Frieden erfolgreich sein
werden“. Religion hilft also, die „Heiligkeit“ und „absolute
Verbindlichkeit der Moral“ zu denken.
Warum aber ist dann das Böse in der Welt? Warum gibt es Hass,
Unrecht und Gewalt? Anders gefragt: Warum handeln die Menschen
unmoralisch? Kant hält fest: „Der Satz: der Mensch ist böse, kann
[…] nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen
Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung
von demselben in seine Maxime aufgenommen.“ Woher dieses Prinzip
des Bösen kommt, kann auch er nicht erklären. Klar ist für den
Philosophen, dass der Mensch oft unmoralisch handelt – wider
besseres Wissen. Hier stimmt er mit Paulus überein, der sagt:
„Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das
Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Römer 7,19).
Der Apostel ist überzeugt: Es ist „die Sünde, die in mir wohnt“,
die das Böse vollbringt. Nur der Geist Gottes, der in Jesus
Christus lebendig macht, kann das Gesetz der Sünde und des Todes
überwinden. Für Kant dagegen ist Christus – er nennt ihn
„Gottmensch“ – der sinnliche Ausdruck einer rationalen Idee: ein
Sinnbild, wie die Menschheit eigentlich sein könnte, wenn sie
sich vernünftig verhalten würde: nämlich moralisch vollkommen.
Christus ist also „das in unserer Vernunft liegende Urbild […],
eigentlich das Objekt des seligmachenden Glaubens, und ein
solcher Glaube ist einerlei mit dem Prinzip eines Gott
wohlgefälligen Lebenswandels“.
Es ist das Ziel der Geschichte, dass die Menschheit diesen
vollkommen moralischen Zustand erreicht. Der „Kirchenglaube“ muss
dazu nach und nach in den „reinen Religionsglauben“ übergehen.
Unter dem Kirchenglauben versteht Kant eine Religion, die nicht
auf reiner Vernunft fußt, sondern sich auf andere Autoritäten wie
Gott oder die Bibel beruft. Weil es sich hier um „Statuten“
handelt, nämlich „für göttlich gehaltene Verordnungen, […] die
für unsere moralische Beurtheilung willkürlich und zufällig
sind“, nennt Kant diesen Glauben „statutarisch“. Ihm erteilt er
eine vernichtende Absage: „Diesen statutarischen Glauben […] für
wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur
obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu
machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst,
d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem
wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen
gehandelt wird.“ Offenbarung, Gebete, Dogmen, Liturgie, kurz:
„alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu
können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden“, lehnt der
Königsberger Philosoph strikt ab.
Das bringt ihn in Konflikt mit dem bigotten preußischen König
Friedrich Wilhelm II. Der Philosoph habe Grundlehren der Bibel
und des Glaubens entstellt und missbraucht, lässt der Monarch
seinem Untertan mitteilen, und befiehlt ihm, nichts dergleichen
mehr zu äußern – „widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter
Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt“.
Kant antwortet in allem Respekt, er habe das Christentum
keineswegs herabgewürdigt. Öffentlicher Äußerungen zu diesem
Thema werde er sich künftig enthalten. Er hat ja bereits alles
gesagt, was er dazu zu sagen hat.
Sein Vernunftglaube beruht letztlich auf dem kategorischen
Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du
zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Das Prinzip dahinter drückt schon die Goldenen Regel Jesu in der
Bergpredigt aus: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute
tun, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7,12). Kants Denken
stimmt damit überein, dass der Mensch nach Gottes Ebenbild
geschaffen ist. Er hat eine unveräußerliche Würde und soll
entsprechend handeln.
Wenn das alle tun würden, wäre es besser um die Welt bestellt.
Aber die Geschichte der Menschheit sieht anders aus. Schon in den
Psalmen der Bibel wird immer wieder die Klage laut, dass es den
Bösen, den Frevlern, den gewissenlosen Egoisten so gut geht,
während die Gerechten leiden. Beispiel: „Denn für sie gibt es
keine Qualen, gesund und feist ist ihr Leib. Sie sind nicht in
Mühsal wie sonst die Leute und werden nicht wie andere Menschen
geplagt.“ (Psalm 73, 4-5).
Eine unerklärliche Naturkatastrophe wie das Erdbeben von Lissabon
1755, bei dem bis zu 100.000 Menschen starben, machte nicht nur
Kant, sondern auch seine Zeitgenossen ratlos. Es geschah am
Allerheiligentag, zahlreiche Kirchen, in denen die Gläubigen
beteten, wurden zerstört, Bordelle und Spelunken blieben
verschont. Während nach dieser Katastrophe viele vom Glauben an
einen gütigen Gott abfielen, erklärten andere, auch dieses
schreckliche Ereignis müsse einen Sinn haben, auch in diesem
Bösen verberge sich etwas Gutes.
Güte, Tugend einerseits und Glück, Wohlergehen andererseits sind
oft in einem empörenden Ungleichgewicht. Die Philosophin Susan
Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, erklärt: Das
„Ringen damit, wie man eine Welt ertragen kann, in der Tugend und
Glück auseinanderfallen, war ein zentrales Thema für Kant“.
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