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Beschreibung
vor 3 Monaten
Es gibt wunderbare zwischenmenschliche Anziehungskräfte, wir
spüren und erleben sie meist völlig unvorbereitet, oft in
wandlungsstarken Zeiten. Die Literatur will, wenn sie davon
erzählt, nichts entschuldigen oder bewerten – sie will nur
darstellen und seit dem 20. Jahrhundert häufig auch den
psychologischen Hintergrund beleuchten.
Da ist diese Frau aus dem Zigarren- und Zeitungsstand, in einem
billigen Kleid, zehn Jahre älter als der Freund des Erzählers,
von dem hier berichtet wird, der auch selbst erzählt. Das
wechselt. Die Frau wirkt weder schön noch sonst irgendwie
anziehend. Doch als der Mann sie sieht, gerät er in einen
unbekannten Zustand. Das ist die titelgebende „Andere“. Also
nicht die, die er heiraten soll und wohl auch will. Will er? Oder
…? Doch nicht? Einen Tag vor der Hochzeit schläft der Mann mit
eben jener Frau aus dem Zigarrenladen, mit „The Other Woman“ (so
der Originaltitel). Und dann, im Rückblick, lesen und hören wir
unentwegt unsichere Selbstreflexionen, Grübeleien.
Der, der da reflektiert, grübelt und an Entscheidungen zu
zweifeln scheint, das aber zugleich immer bestreitet, empfindet
das Erzählen von der anderen Frau „als Befreiung“. Wovon
eigentlich? Von einem Schuldgefühl? An die Andere denke er –
längst mit der einen verheiratet – noch immer: „nachts“. Er sei
der Frau „eine Stunde lang näher“ gewesen „als je einem anderen
Menschen“, lesen wir, er habe mit ihr „das denkwürdigste Erlebnis
(seines) Daseins“ erlebt. Doch er heiratete die eine, die Zarte,
Feine, Unerfahrene, nicht „The Other Woman“, mit der er offenbar
Lust, Sexualität, Begierde, was auch immer erlebt hatte; es
bleibt im Text unbenannt. Er erzählt gewissermaßen gegen die
Macht der anderen Frau oder eigentlich gegen die der anderen
Beziehung an, will sie erzählend unbedeutender machen als sie
ist. Es hilft nichts: Er bleibt in einem „bösen Zwiespalt“, wie
er das Phänomen selbst nennt. Bei Freud heißt es Liebesspaltung.
Als er seine Geschichte erzählt, kann er sich an kein Wort
erinnern, das er „je von ihr vernommen hätte“. Aber an vieles
andere, z.B. daran, dass er selbst in einer anderen Stimme als
sonst gesprochen hatte, als er mit ihr zusammen war. Diese Frau
weckte offenbar etwas bis dahin Verstecktes in ihm, eine Seite,
die er von sich selbst nicht gekannt hatte. Das ist bedeutsam.
Das vergisst man/frau nicht so leicht. Warum auch?
In diesem Text von Sherwood Anderson herrscht Ambivalenz in
extremem Maße. Anders als viele andere Autoren seiner Generation
verfiel Anderson nicht in das recht simple Storytelling der
populären US-amerikanischen Short Story des 20. Jahrhunderts und
interessierte sich stattdessen stets für psychologische
Beweggründe von Figuren, die er dann auch erzähllogisch
darzustellen wusste. In „The Other Woman“ aus dem Jahr 1921 kann
der Leser/Hörer jedenfalls mühelos die Perspektiven verschiedener
Figuren einnehmen – so ausdruckssicher und psychologisch schrieb
dieser Autor. Die eindrucksvolle Übersetzung besorgte Karl Lerbs.
Es liest Volker Drüke.
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