Abbruch
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vor 4 Monaten
Würde f*****g Google noch ansatzweise das tun, wofür es mal
gebaut wurde, könnte ich hier in exaktem Wortlaut wie Quelle
erzählen, das Sybille Berg mal irgendwo, irgendwann, irgendwie,
gesagt hat, dass das Leben zu kurz sei, als dass man jedes
angefangene Buch zu Ende lesen müsse. Und selbst wenn sie das nie
gesagt hat und wehement opponierte: das Gebot ist richtig, ich
lebe es! Und es ist doch auch so: das Weglegen eine Buches, oder,
wie es sich heute äußert: das ein Buch in der Bibliotheksansicht
auf dem E-Reader von immer mehr Werken überholt wird, bis es
traurig und vergessen automatisiert gelöscht wird, muss überhaupt
nichts mit der Qualität, der Interessantheit, der Brillanz eines
Buches zu tun haben. “Es liegt nicht an Dir, es liegt an mir”
sagt man leise in einer verrauchten Bar zu einer Lektüre, die man
so hoffnungsvoll begann, die erste Seite, das erste Kapital so
aufregend, so neu, man wollte das Ding heiraten. Aber irgendwas
kam dazwischen, der Job, der Suff, man lernte eine Neue kennen
und jetzt ist der Zauber vorbei und es bleibt nur der Abschied
mit der Hoffnung, sich irgendwann mal wieder zu sehen. Literatur
kennt keine Moral.
Aber ein anderer wird vielleicht glücklich mit ihr und so nehme
ich das zum Anlass, eine Sammelrezension - genau in der Mitte
zwischen Lobpreisung und Verriss - zu verlautbaren, mit drei
Werken, die mit unterschiedlichen Prozentzahlen in der Coverecke
auf dem Kindle nach unten rutschen, obwohl sie das vielleicht
nicht verdient haben.
Beginnen wir mit einem Buch, auf welches ich mich wirklich,
wirklich gefreut hatte: In 2019 hatte die Journalistin Taffy
Brodesser-Akner ihren ersten Roman mit dem schon mal grandiosen
Titel “Fleishman Is in Trouble” veröffentlicht (auf Deutsch:
“Fleishman steckt in Schwierigkeiten”). Die rasante Story um eine
New Yorker Middleclass Familie (also aus unserer Sicht “f*****g
rich”) in der unten, oben, männlich, weiblich, richtig und falsch
wild durcheinander gewirbelt werden, voller Überraschung und mit
genau der richtigen Mischung aus jiddisch/jüdisch/amerikanischer
Stereotypen und deren Brechen war der reine fun. Brodesser-Akners
zweiter Roman ist gerade erschienen und verlegt die Story von
Manhattan und Staten- nach Long Island, wo es titelgebend einen
Kompromiss geben soll, einen “Long Island Compromise” also. Nicht
ganz so toll als Titel, aber geheimnisvoll und ich verrate nicht
zu viel, dass er was ganz anderes ist, als man denkt. Das Buch
steht bei mir bei 42% und ich habe mich bisher eigentlich ganz
gut amüsiert. Eine Entführungsgeschichte als Genesis, das Milieu
diesmal deutlich mehr jüdische upper class, mit all dem Ballast,
den der Holocaust auch in der vierten oder fünften Generation
noch aufbürdet, wird er durch besagt Entführung eines
Familienmitglieds nicht leichter. Brodesser-Akner nutzt das, um
das Neuroselevel der zahlreichen handelnden Personen permanent
zwischen 6 und 7 auf der nach oben offenen Woody-Allen-Skala zu
halten, was zunächst ganz nett zu lesen ist. Der jüngste Sohn des
Entführten, zum Zeitpunkt ein Baby, ist mit 40 ein reiches Wrack
in L.A. und Brodesser-Akner hat ihren “Patrick Melrose” gelesen
und fügt den in diesem epischen und von mir hochgelobten Epos
gefundenen illegalen Substanzen ein paar mehr hinzu, mit denen
sich der erfolglose Screenwriter das Hirn ruhig zu stellen sucht.
Da kann Ottessa Moshfegh noch was lernen! Das Ganze geht ein
glattes Drittel des Buches und ermüdet dann doch sehr und so
wollen wir es schon weglegen, da kommt sein ältere Bruder in den
Fokus, der das Kindheitstrauma mit anderen Formen der Neurose
bewältigt und mich packte eine unendliche Müdigkeit ob der
“Reiche haben auch Probleme” Vibes. Alles ist ein bisschen sehr
Klischee (was ich doch eigentlich mag) und obwohl sich
Veränderungen in der finanziellen Grundversorgung der
Industriellenfamilie andeuten, bin ich zu erschöpft um dem noch
folgen zu wollen. Der Lektor hätte ein bisschen
Überzeugungsarbeit leisten sollen um Brodesser-Akners Zweitwerk
auf den Speed und die Wendigkeit des Debüts zu kürzen, dann wäre
es was mit uns geworden. Schade. Aber es ist noch kein
endgültiger Abschied und damit kein Verriss.
Sehr nah und doch so weit von Long Island entfernt ist ein Autor
aufgewachsen, dessen Name wie ein Pseudonym klingt, es aber nicht
ist, versichert uns Wikipedia: Shalom Auslander? No way, geh mir
weg, so heißt doch keiner! Heißt er doch. Gestolpert bin ich über
den Mann auf meinen Streifzügen durch die Welt der obskuren
Newsletter und wenn ein solcher “Fetal Position” heißt, weckte
das soviel Interesse und Bilder im Kopf, dass der subscribe
Button fast unbewusst geklickt wurde. Und der Newsletter liefert.
Neurosestufe noch mal über den fiktiven Helden von “Long Island
Compromise”, muss hier jemand mit dieser Last tatsächlich leben
und erzählt uns von seinen permanenten Ängsten ob der Welt, vor
seinen Mitmenschen und überhaupt allem, mit dem einzigen was
dagegen hilft: Humor. Hier: jüdischer. Auslander hat schon einige
Bücher geschrieben, das ominös “Feh” genannte ist sein neuestes,
soeben auf englisch erschienen. “Feh” ist jiddisch und, so
philosophiert Auslander, kommt in der Torah so ziemlich auf der
ersten Seite vor und beschreibt den ersten Eindruck, den Gott
beim Anblick von Adam gehabt hat: “Feh”. Enttäuschung. Not good
enough. Warum hätte er sonst eine Frau als Adam 2.0 geschaffen?
Es ist dieselbe Enttäuschung, die Shalom Auslander bei allen
Menschen spürt, die ihm begegnen, seitdem er in einer orthodoxen
Schuul von der Story erfuhr. Während sich der Umgang mit diesem
Gefühl in einem wöchentlichen Newsletter zum alltäglichen
Wahnsinn auf dieser Welt sauber wegliest, ist das in dreißig
Kapiteln, soviel verlangt uns der Autor ab, nur schwer zu
ertragen. Ich versuche es immer wieder und obwohl ich über jeden
Scheiß lachen kann, was zu genug Unruhe bei der Studio B
Besatzung führt, bleibt dieses hier leider nach und nach aus.
Aber vielleicht hilft es ja Leserinnen und Lesern, die ähnlich
wie Auslander durch die Welt mäandern, mit dieser etwas milder
ins Gericht zu gehen und denen soll dieses Buch gegönnt sein. Mir
isses das nicht.
Aus ganz anderen Gründen dropt in der Liste der vielleicht
verschmähten Bücher ein, nein!, doch!, oh!, ja!, Neal Stephenson
immer weiter nach unten. Diese Länge! Der Neal pullt hier einen
Scorsese und lässt sich von niemandem vorschreiben, dass man eine
Story, die man in drei Bände packen sollte, nicht auch in einen
packen kann. Wenn ich mir vorstelle, wie wir vor Erfindung des
E-Books mit so einem 800-Seiten-Kilo-Ding jeden morgen in der
Straßenbahn gesessen hätten, über Wochen - das hätte doch keiner
gemacht! Aber ein E-Book kostet keinem Baum das Leben und keinem
Leser den Ischias, sagt sich Neal Stephenson, da brechen wir
jetzt mal Rekorde. “Fall” ist die Fortsetzung von “REAMDE”, hier
rezensiert in 2011, aber wirklich, heiliges Ehrenwort von
jemandem mit Alles-In-Reihenfolge-Lesen-Müssen-OCD, komplett ohne
dieses lesbar. Ich muss das wissen, weil ich schon lange alles
vergessen habe. Stephenson nimmt den Protagonisten aus dem ersten
Buch und lässt ihn sterben. Das passiert im ersten Kapitel und
damit ist das kein Spoiler. So sind die Regeln. Ich hab sie mir
nicht ausgedacht. Was darauf folgt ist ein wirklich grandioser
Speedrun durch die nähere Zukunft inklusive völlig aus dem Ruder
laufender politischer Verhältnisse in den USA, virtueller Welten,
Hirn-Maschine-Schnittstellen, Singularität, Religion, echt und
ausgedacht, philosophischen Exkursen aus dem Halbfeld, es ist
eine Messe! Aber so laaaaaang.. Ich bin bei 53% und habe hier, im
Widerspruch zum Eingangs erwähnten Sybille Berg Zitat,
tatsächlich immer wieder Gewissensbisse, das Ding nicht doch noch
mal anzufassen. Ich sehe was Neal Stephenson hier macht, wie
viele große, nein, riesige Gedanken, Weltbilder und Visionen er
in ein Buch packt und obwohl beim Blick auf die reine Seitenzahl
nicht zu vermuten, nicht ausufern lässt, gut und tight
beisammenhält. Aber ich schaffe es zur Zeit einfach nicht, das
Ding zu Ende zu bringen. “Fall” ist somit, obwohl in der Liste
schon am längsten, das wahrscheinlichste Buch, welches ich zu
Ende bringen werde, und damit haben wir am Ende denn doch eine
minimal gespoilerte Lobpreisung.
Und weil es heute soviel an Information gab nochmal
zusammengefasst die besprochenen Werke:
Taffy Brodesser-Akner: Long Island Compromise - so mäh..
Shalom Auslander: Feh - so feh..
Neal Stephenson: Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O. - so
YEAHHHHhhhhhhhhhmmmmnnnajaochmensch…
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