Tess Gunty: Der Kaninchenstall
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Beschreibung
vor 4 Monaten
Bereits vor über einem Jahr kam die Leseempfehlung unseres guten
Freundes und ehemaligen Studio B Mitglieds Heiko Schramm in mein
E-Mailpostfach, der anhand eines Artikels über eben jenes Buch
der Meinung war, dass es auf meine Leseliste gehören könnte.
Gedanklich immer in meinem Hinterkopf und auf meiner imaginären
Liste war es nun kürzlich endlich soweit. Manche Bücher brauchen
einfach ihre Zeit und die Leserin spürt, wenn der richtige Moment
gekommen ist. Bereits letzten Sommer veröffentlichte der Verlag
Kiepenheuer und Witsch Tess Guntys The rabbit hutch auf Deutsch
unter dem Titel Der Kaninchenstall – wir sind entzückt.
Zunächst war ich mir jedoch nicht sicher, ob ich das Buch
wirklich besprechen möchte. Mein Kopf war nach der Lektüre derart
voll und durcheinander, dass ich mir nicht sicher war, ob ich das
Gelesene so für mich ordnen könnte, dass eine sinnvolle Rezension
dabei herauskommen würde. Nun versuche ich es also.
Tess Guntys Debütroman, an dem sie nach eigenen Aussagen circa
fünf Jahre arbeitete, spielt in der fiktiven und ehemaligen
Industriestadt Vacca Vale, die sich im Bundesstaat Indiana, also
dem sogenannten Rust Belt befindet, in dem die Autorin selbst
auch aufgewachsen ist. Die Handlung beschränkt sich auf drei
Tage, an deren Ende die Handlungsstränge schließlich in einem
Ereignis zusammenlaufen, jedoch erfährt die Leserin über
Rückblenden auch immer wieder Einzelheiten über die Geschichten
verschiedener Figuren. Im Zentrum steht dabei eine junge Frau
namens Blandine, die eine Obsession für Mystikerinnen, speziell
Hildegard von Bingen, hat. Sie lebt, wie viele andere, aber nicht
alle handelnden Personen im Roman, im Appartementhaus La
Lapinière Affordable Housing Complex, einst gegründet um
bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, der von seinen Bewohnern
nunmehr nur „der Kaninchenstall“ genannt wird.
Diesen nennen auch Blandines Mitbewohner ihr zu Hause. Drei junge
Männer, die, so wie sie selbst auch, vorher in der Fürsorge
waren, nun aber alt genug sind, um allein zu leben. Außerdem gibt
es unter anderem noch Joan Kowalski, die in ihrem Berufsalltag
Kommentare auf Nachrufe auf Unangemessenheit überprüft, oder
beispielsweise ein älteres Ehepaar mit einer Aversion gegen
Nagetiere. Die Menge an Informationen, die während des Romans
über die einzelnen Figuren preisgegeben wird, ist dabei sehr
unterschiedlich. Außerhalb des Kaninchenstalls besteht Tess
Guntys Personal unter anderem aus dem alternden Kinderstar einer
fünfzigerjahre Serie: Elsie Blitz sowie deren entfremdeten Sohn
Moses Robert Blitz. Dies sind aber noch längst nicht alle
Charaktere des Romans. Doch egal wie viel oder wenig die Leserin
über jeden Einzelnen erfährt, sie alle sind wichtig und nur
zusammen ergeben sie ein Bild.
Es ist das Bild einer Gesellschaft und Gegend, die nach Jahren
der wirtschaftlichen Blüte und des Reichtums – die längst der
Vergangenheit angehören – dem Verfall preisgegeben sind und die
Tess Guntys Meinung nach noch immer zu wenig Beachtung erfahren,
wodurch die Menschen zum Zielobjekt für Politiker werden, die
deren Notsituation ausnutzen und mit falschen Versprechungen
locken. Es ist aber auch ein regelrechtes Wimmelbild der
menschlichen Emotionen, Enttäuschungen, geplatzten Träume und
Hoffnungen, in deren Mittelpunkt die junge Heldin Blandine, die
einst Tiffany hieß, steht. Tess Gunty schreibt: „Jede Kreatur
tut, was sie kann, mit den Ressourcen, die sie hat.“ Und genau so
tun es auch ihre Protagonistinnen und Protagonisten, jede und
jeder kämpft um seine Existenz, wenn nicht gar um seine
Daseinsberechtigung. Als Lesende erlebt man ein Kaleidoskop der
Innenansichten und auch äußerlichen Beschreibungen, dass einem
schon mal schwindelig werden kann.
Konsequent setzt Tess Gunty dies auch in der Form ihres Romans
um. Es ist eine Kombination aus kürzeren und längeren Kapiteln in
denen verschiedene Perspektiven ausgebreitet oder nur angerissen
werden, es gibt Nachrufe die chatverlaufartig gestaltet sind,
Illustrationen in Form von comicartigen Zeichnungen, die ihr
Bruder für den Roman angefertigt hat und auch Zitate spielen
immer wieder eine Rolle. Zu dieser äußerlich überladenen Form
passt auch das thematisch unglaublich weite Spektrum des Romans.
Da geht es zum Beispiel neben Missbrauch: „»Ich habe die Nase so
voll«, sagt Blandine, »von Gewalt gegen Frauen, die als
Anerkennung getarnt ist.« auch um Mystik, persönliche Entfaltung,
Einsamkeit, Gemeinschaft, Gentrifizierung, demographischen
Wandel, Kapitalismus usw.
Wenn nun der Eindruck entstanden sein sollte, dass das Lesen von
Der Kaninchenstall an der ein oder anderen Stelle etwas too much
sein könnte, dann stimmt das und gleichzeitig auch nicht. Es
fühlt sich an wie eine Metapher auf unsere Zeit, in der wir
permanent mit Informationen überhäuft werden, die auf die
verschiedensten Arten zu uns gelangen und uns oft zu überfordern
drohen. Es ist aber genauso eine Freude, dieses Buch zu lesen,
auch wenn es einen nicht immer glücklich zurücklässt. Denn Tess
Gunty schafft es immer wieder, die Lesende so in das Innere ihrer
Figuren blicken zu lassen, dass ein Mitfühlen und zumindest
teilweise verstehen, quasi unvermeidlich sind. Und sie hat ein
enormes Talent, welches sich darin ausdrückt, dass sie
Wahrnehmungen und Eindrücke auffangen und sprachlich ausdrücken
kann, dass es den Nagel auf den Kopf trifft: „Blandine hasst
diese billige Karikatur von Empathie, die sich so oft als Mitleid
manifestiert. Sie kennt sie nur von Leuten, die übermäßig geliebt
und nie wirklich kritisiert werden.“
Und letztlich, so sagt es die Autorin selbst, geht es in ihrem
Werk um die Frage: Was sind wir uns gegenseitig schuldig? Eine
nachdenkenswerte Frage, die sich am Ende jede und jeder selbst
beantworten muss. Der Kaninchenstall steht dabei als Sinnbild der
mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen die in ihm leben
und die sich eher noch zerfleischen, wenn sie sich zu nahe
kommen, denn sich wohlgesonnen zu sein. Aber ein positiver Wandel
ist möglich, damit lässt uns dieses Buch zurück, so wie ich nun
alle Hörer- und Leserinnen mit der Empfehlung zurücklasse, Tess
Guntys Der Kaninchenstall zu lesen. Es lohnt sich, denn es ist
nicht nur Lesen, sondern ein Miterleben und Durchleben
gleichermaßen.
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