106 — Wissenschaft als Ersatzreligion? Ein Gespräch mit Manfred Glauninger

106 — Wissenschaft als Ersatzreligion? Ein Gespräch mit Manfred Glauninger

1 Stunde 11 Minuten

Beschreibung

vor 2 Monaten

Das heutige Gespräch führe ich mit Dr. Manfred Glauninger. Er ist
Soziolinguist und forscht am Austrian Centre for Digital
Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften und lehrt am Institut für Germanistik der
Universität Wien.


Dieses Gespräch war für mich ganz besonders interessant und auch
unterhaltsam, weil wir eine ganze Reihe von Dingen miteinander
verbunden haben, die schon in früheren Episoden erwähnt wurden.


Was ist Wissenssoziologie, warum muss Wissenschaft auch als
soziales Phänomen verstanden werden? Ist es gefährlich oder
notwendig, Wissenschaft zu entmystifizieren und auch hart zu
kritisieren? Wirkt Wissenschaft in manchen Bereichen unserer
Gesellschaft gar als Ersatzreligion? Was sind die Auswirkungen
davon?


Was lernen wir aus den schweren Krisen der letzten 20 Jahren und
dem regelmäßigen Versagen von Institutionen über die Rolle der
Wissenschaft?


Wie läuft die Produktion von Wissen ab? Welche »magischen«
Mechanismen gibt es hier, oder verhält es sich letztlich ähnlich
wie die Produktion zahlreicher anderer Güter? Was hat es mit
Fehlern und Inkompetenz auf sich? Gibt es unterschiedliche Arten
von Fehlern?


Gibt es eine frühe »Prägung« des Nachwuchses in der Wissenschaft,
gepaart mit starken Hierarchien und Gerontokratie? Welche Rolle
spielt Wettbewerb gegenüber Kooperation in der Wissenschaft?
Richten wir die Wissenschaft zu sehr nach marktwirtschaftlichen
Prinzipien aus, oder besser gesagt: spielt die Wissenschaft
Marktwirtschaft, weil weder die Akteure dafür die Kompetenz
haben, noch das Modell passt?


In einigen anderen Folgen wurde das Thema Stagnation schon
angesprochen, auch hier stellen wir die Frage: Verdoppelt sich
das Wissen oder eher Rauschen regelmäßig? Eine in diesem
Zusammenhang für die Gesellschaft sehr relevante Frage ist,
welchen Beitrag die immer größere Zahl an wissenschaftlich
ausgebildeten Menschen tatsächlich für unsere Gesellschaft
leisten? Welche Rolle spielt eben diese wissenschaftliche
Ausbildung dabei? Bringt die universitäre Ausbildung tatsächlich
signifikante Gewinne für unsere Gesellschaft oder dominiert
Signalisierung über Substanz? Der US-amerikanische Ökonom, dessen
Name mir in der Episode nicht eingefallen war, ist Bryan Kaplan,
der selbst an der George Mason Eliteuniversität forscht und
unterrichtet.


»My best guess says signaling accounts for 80% of education’s
return”«, Bryan Kaplan


Die Idee der Signalisierung und sollte mit der schon genannten
der Frage nach der Qualität der Bildung in unseren Institutionen
verknüpft werden, besonders hinsichtlich der nur verbleibenden
 20% :


»Teachers’ plea that “we’re mediocre at teaching what we measure,
but great at teaching what we don’t measure” is comically
convenient.«, Bryan Kaplan


Auch zwischen den Studienrichtungen gibt es Unterschiede. Gilt
die Geisteswissenschaft immer häufiger als Notnagel für
diejenigen, die schwierigere Studien nicht schaffen? In einer
früheren Episode hat bereits Prof. Michael Sommer ähnliche
Aussagen getätigt.


“The excentric university professor is a species that is going to
be extinct fast. […] The bad currency is driving out the good and
in effect where the people who are nimble in the art of writing
for grants are displacing the idiosyncratic thinkers who are
generally much less nimble at that sort of activity.”, Peter
Thiel


Peter Thiel bietet sogar ein Stipendium für diejenigen an, die
»Dinge bauen wollen, anstatt im Klassenzimmer zu sitzen.«


Damit stellt sich eine noch grundlegendere Frage: Stellen viele
Fächer so etwas wie eine institutionelle Autopoiesis dar, ist es
also Wissenschaft als selbstreferenzielle Legitimation ihrer
eigenen Institutionen, weil sie keinen direkt erkennbaren Nutzen
haben? Aber die Frage kann auch umgedreht werden: Was richtet
Institutionalisierung mit Wissenschaft an?


Als »Berufsdenker« sollte auch die Selbstreflexion hoch im Kurs
stehen, warum hört man dann so wenig davon in der Öffentlichkeit,
im Besonderen nach großen Krisen?


Wie kann das Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaft
beschrieben werden? Kann Wissenschaft tatsächlich nur in
Demokratien das volle Potenzial ausspielen?


»Macht ist ein wichtiger Punkt in der Wissenschaft.«


Was können wir hier aus der Vergangenheit lernen, etwa der
Wissenschaft während der Nazi-Diktatur in Deutschland und
Österreich?


»Lawyers and doctors, all credentialed with university degrees,
were substantially overrepresented within the NSDAP, as were
university students (then a far narrower section of society than
today)«, Niall Ferguson


Benötigen wir überhaupt so viele Akademiker in unserer
Gesellschaft? Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin spricht
vom Akademisierungswahn. Der damalige britische Premierminister
Rishi Sunak warnt, dass zu vielen Universitätsstudenten ein
falscher Traum verkauft werde. Auch Thomas Sowell kritisiert die
eindimensionale Betrachtung des Wissensbegriffs:


»Someone who is considered to be a “knowledgeable” person usually
has a special kind of knowledge—perhaps academic or other kinds
of knowledge not widely found in the population at large. Someone
who has even more knowledge of more mundane things—plumbing,
carpentry, or automobile transmissions, for example—is less
likely to be called “knowledgeable” by those intellectuals for
whom what they don’t know isn’t knowledge. Although the special
kind of knowledge associated with intellectuals is usually valued
more, and those who have such knowledge are usually accorded more
prestige, it is by no means certain that the kind of knowledge
mastered by intellectuals is necessarily more consequential in
its effects in the real world.«, Thomas Sowell


Absolventen von Universitäten müssen aber auch als Denkkollektiv
gesehen werden. Ist dies aber ein Kollektiv, wo Diversität nur
auf der Verpackung steht? 


Wer ist überhaupt Innovator in unseren modernen
Gesellschaften? 


»But just as most engineers are not inventors, and most
scientists are not researchers, so most science is not research.
[…] The university was keeping up with a changing technological
world rather than creating it.«, David Edgerton


Was hat es also mit Kreativität im Wissenschaftsbetrieb, im
Kollektiv zu tun?  Hat zumindest eine kleine Minderheit noch
die Chance, sich einen Freiraum zu schaffen, den die Institution
(noch) nicht erkannt und durch Prozesse und Regeln ausradiert
hat.


Zuletzt kehren wir zur Frage zurück, wie Krise und Expertise
zusammenwirken. Was sind die zwei wichtigsten Aussagen, die Sie
von jedem Experten hören sollten, aber selten hören? Dr.
Glauninger wird es am Ende der Episode enthüllen.


“Evidence based policy has become policy based evidence.”, Mervyn
King


Referenzen


Andere Episoden


Episode 101: Live im MQ, Macht und Ohnmacht in der
Wissensgesellschaft. Ein Gespräch mit John G. Haas.

Episode 96: Ist der heutigen Welt nur mehr mit Komödie
beizukommen? Ein Gespräch mit Vince Ebert

Episode 93: Covid. Die unerklärliche Stille nach dem Sturm.
Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Episode 92: Wissen und Expertise Teil 2

Episode 80: Wissen, Expertise und Prognose, eine Reflexion
Teil 1

Episode 91: Die Heidi-Klum-Universität, ein Gespräch mit
Prof. Ehrmann und Prof. Sommer

Episode 85: Naturalismus — was weiß Wissenschaft?

Episode 84: (Epistemische) Krisen? Ein Gespräch mit Jan David
Zimmermann

Episode 83: Robert Merton — Was ist Wissenschaft?

Episode 72: Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft,
Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Episode 71: Stagnation oder Fortschritt — eine Reflexion an
der Geschichte eines Lebens

Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp
Blom

Episode 41: Intellektuelle Bescheidenheit: Was wir von
Bertrand Russel und der Eugenik lernen können

Episode 39: Follow the Science?

Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann

Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige
Universität!

Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik,
Fortschritt oder Stagnation



Dr. Manfred Glauninger 


Dr. Manfred Glauninger an der Akademie der Wissenschaften,
Publikationen



Fachliche Referenzen


John P. A. Ioannidis, Why Most Published Findings Are False
(2005)

Sabine Kleinert, Richard Horton, How should medical science
change? Lancet Comment (2014)

Ludwig Fleck, Genesis and development of a scientific fact.
ed. T.J. Trenn and R.K. Merton, foreword by Thomas Kuhn. Chicago
: University of Chicago Press, 1979. This is the first English
translation of his 1935 book titled Entstehung und Entwicklung
einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom
Denkstil und Denkkollectiv. Basel: Schwabe und Co

Bryan Kaplan, The Case against Education, Princeton
University Press (2018)

Conversation between Peter Thiel und David Graeber, Where did
the Future go? (2020)

Peter Thiel Fellowship

Niall Ferguson, The Treason of the Intellectuals, The Free
Press (2023)

Niall Ferguson, The Treason of the Intellectuals, Uncommon
Knowledge with Peter Robinson (2024)

Julien Benda, La trahison des clercs (1927)

Julian Nida Rümelin, Der Akademisierungswahn, Vortrag
Körber-Stiftung (2014)

Thomas Sowell, intellectuals and Society, Basic Books (2010)

Rishi Sunak, Too Many University Students are Sold a False
Dream, Telegraph (2023)

David Edgerton, The Shock Of The Old: Technology and Global
History since 1900, Profile Books (2019)

Mervyn King, John Kay, Radical Uncertainty, Bridge Street
Press (2021)

Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

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