Episode 22: Politik der Wahrnehmung

Episode 22: Politik der Wahrnehmung

33 Minuten

Beschreibung

vor 2 Monaten
Oliver Precht spricht mit Katrin Trüstedt (beide ZfL) über sein
Buch »Der rote Faden. Maurice Merleau-Ponty und die Politik der
Wahrnehmung« (August Verlag 2023). Darin stellt er den
französischen Philosophen und Phänomenologen als politischen Denker
vor, von dessen Haltung zur eigenen Gegenwart wir einiges für den
Umgang mit den großen Fragen unserer Zeit – von der Klimakrise bis
zum Postfaktischen – lernen können. ———————— Maurice Merleau-Ponty
(1908–1961) sah die Aufgabe der Philosophie nicht darin, ›ewige
Fragen‹ zu wälzen, sondern sich im Hier und Jetzt zu verorten. Mit
seinen Weggefährt*innen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre,
mit denen er 1945 die Zeitschrift »Les Temps Modernes« gründete,
teilte er das Interesse an der Rolle des Intellektuellen im
politischen Geschehen. Doch in der Frage des Engagements brach
Merleau-Ponty mit Sartre, dem er vorwarf, sich von der historischen
Situation zu unkritischen Parteinahmen hinreißen zu lassen, ohne
eine kohärente Politik zu verfolgen. Demgegenüber pflegte
Merleau-Ponty einen bedächtigeren Politikstil, der durch die
ständige selbstkritische Hinterfragung der eigenen Position im
jeweiligen historischen Kontext gekennzeichnet war. Diese Haltung
der aufmerksamen Wahrnehmung zieht sich als titelgebender roter
Faden durch Merleau-Pontys Philosophie. Deren Aktualität verdankt
sich Oliver Precht zufolge seinem Nachdenken über Politik und
Gegenwart, das von Kritikfähigkeit und Offenheit für
unvorhergesehene Begegnungen geprägt ist. Im Mittelpunkt steht
dabei der Leib, der sich erst in der Begegnung mit der ihn
umgebenden Welt und den sie bevölkernden Wesen ausbildet. Durch den
positiven Fokus auf den Leib unterscheidet sich Merleau-Pontys
›Politik der Wahrnehmung‹ von der aufklärerischen Pädagogik eines
bestimmten Typs der Modernekritik, der besonders prominent von
Bruno Latour vertreten wurde. Davon ausgehend, dass die Moderne von
der Illusion einer starren Trennung von Natur und Kultur beherrscht
wird, setzte Latour auf eine radikale Revolution des Denkens, die
alle Verbindungen zur Moderne kappt. Merleau-Ponty hingegen spürte
jenen Strömungen im modernen Denken nach, in denen diese Trennung
bereits brüchig ist und liefert damit auch Anknüpfungspunkte für
heutige Versuche, die marxistische Trennung der Sphären von Natur
und Kultur zu reformieren. Einen solchen Versuch, den roten Faden
wiederaufzunehmen und durch die Anknüpfung an moderne Klassenkämpfe
weiterzuspinnen, unternahm in seinem gemeinsam mit Nikolai Schultz
verfassten Memorandum »Zur Entstehung einer ökologischen Klasse«
schließlich auch Latour und zeigte sich dadurch dem Denken
Merleau-Pontys näher, als er selbst wohl zugegeben hätte. ————————
Der Philosoph Oliver Precht ist mit dem Projekt »Marx in
Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie
(1945–1995)« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL. 2019
promovierte er mit einer Arbeit zur Selbst- und Fremdbestimmung von
Heideggers Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität
München. Die Literaturwissenschaftlerin Katrin Trüstedt ist
Ko-Leiterin des Programmbereichs Theoriegeschichte am ZfL und
forscht dort zur »Politik des Erscheinens«. Zuvor war sie Assistant
Professor of Germanic Languages & Literatures an der Yale
University und Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft in Erfurt. www.zfl-berlin.org

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