Wie viel Toleranz kann man sich heute noch erlauben?
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vor 1 Jahr
Hallo und herzlich willkommen zu meinem Podcast "Irgendwas ist ja
immer". Diese Woche geht es um das Thema Toleranz. Das scheint ja
etwas zu sein, was teilweise ein wenig aus der Mode gekommen ist.
Jedenfalls in manchen Ländern. Wikipedia definiert das Wort so:
"Toleranz, auch Duldsamkeit, bezeichnet als philosophischer und
sozialethischer Begriff ein Gewährenlassen und Geltenlassen
anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und
Sitten.Umgangssprachlich meint man damit häufig auch die
Anerkennung einer Gleichberechtigung, die aber über den
eigentlichen Begriff („Duldung“) hinausgeht."
Es gibt verschiedene Ebenen der Toleranz. Jene, die man selbst
ausüben kann und jene, die von oder in einer Gruppe, Nation oder
Religion ausübt. Während man über die grundsätzliche Bedeutung
von Toleranz sicher nicht streiten kann und vor allem Katzen,
oder generell Tierbesitzer in Toleranz ziemlich geübt sind, ist
das bei größeren Gruppen schon etwas anders. Toleranz ist vor
allem auch Empathie. Ich mag vielleicht nicht, was andere denken
oder glauben, aber ich respektiere es. Elias Cannetti schrieb
dazu mal:
"Die Empathie vollbringt das, was sich in der Masse nur als
vorübergehende Erlösung und illusorisches Glück einstellt:
Überwinden der Trennwände, Selbstentgrenzung und Selbstlosigkeit.
Sie ist das rettende Gegenbild zur einverleibenden Macht."
Mit einverleibender Macht ist auch die Intoleranz gemeint und
über den Zwiespalt zwischen Toleranz und Intoleranz zum einen und
dem Unterschied von beiden Dingen auf der persönlichen und der
staatlichen Ebene, habe ich in den vergangenen Wochen viel
nachgedacht.
Dass die Welt sich in den vergangenen 30 Jahren mächtig verändert
hat, dürfte mittlerweile jedem aufgefallen sein. Neue Konflikte
sind aufgebrochen, alte Konflikte explodieren in kaum geahnter
Brutalität, neue Weltmächte marschieren auf die Weltbühne und die
Wirtschaft ist einer enormen Schieflage. Während man zu Hause
sitzt und erschrocken auf die Gasrechnung starrt, verkomplizieren
sich die Probleme. Und der gute Wille, die Probleme zur
Zufriedenheit möglichst aller zu lösen, der schwindet wie das Eis
in der Antarktis. Das alles führt vor allem dazu, dass sich die
Meinungsfronten verhärten.
Dass sich auf der gesellschaftlich-politischen Ebene seit Jahren
etwas bewegt, ist in fast allen Ländern sichtbar. Die Auflösung
der Mitte
https://dondahlmann.substack.com/p/die-polarisierung-der-mitte
ist ein sichtbares Zeichen. Die Volksparteien haben an Zuspruch
verloren und vor allem die rechten, extremistischen Ränder sind
erstarkt. Die AfD ist in Deutschland ein Zeichen dafür, die
wachsende Popularität rechts-konservativer Parteien in
Frankreich, Skandinavien oder Spanien ein weiteres. In den USA
ist der liberale Konservatismus nur noch eine Randerscheinung und
in vielen arabischen Ländern hat der extreme Islamismus immer
mehr Anhänger gefunden.
Die Fronten in den Diskussionen verhärten sich, weil die Menge an
Problemen und deren Komplexität immer größer werden. Man fühlt
sich hilflos, findet keine Antwort und neigt dazu, ein Problem
mit einem Schlag beenden zu wollen, anstatt den gordischen Knoten
aufzudröseln. Die Demokratie, die linke- oder konservative Mitte,
diejenigen, die Dinge diplomatisch abwägen wollen, werden aber
von jenen in die Zange genommen, die auf eine radikale Lösung
drängen. Die Demokratie selbst gerät so in Gefahr, auch weil sie
gegenüber den extremen Meinungen zu tolerant ist. Aber wie geht
man damit um?
Von Karl Popper, dem großen österreichischen Philosophen der
Neuzeit, stammt folgender Satz.
"Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in
Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten
geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz
predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine
Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso
verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub
oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels."
Es ist das bekannte Toleranz-Paradoxon unter dem Demokratien
gerade besonders leiden. Ab wann muss eine Demokratie ihre
Toleranz ablegen, weil ihr gegenüber intolerante Gruppen, die
Freiheit der Demokratie ausnutzen, um sie abzuschaffen? Wie lange
kann man also die AfD gewähren lassen, wie lange soll man
Salafisten und extremistische Islamisten öffentlich marschieren
lassen und ihnen die Freiheit zugestehen, in der sie daran
arbeiten, in Europa ein Kalifat einzuführen.
In der bundesdeutschen Verfassung gibt sehr hohe Hürden, wenn es
um das Verbot von Parteien oder Vereinen geht. Der dazugehörige
bürokratische Prozess ist lang und kompliziert. Schon der
Ausschluss eines einzelnen Mitglieds aus einer Partei ist
langwierig. Dass das so ist, hat gute Gründe, die alle noch mit
dem Jahr 1933 zu tun haben. Dass die Nationalsozialisten das
gesamte demokratische System der Weimarer Republik in wenigen
Monaten aushebeln konnten, hat dazu geführt, dass die Verfassung
Deutschlands auf mehreren Ebenen dagegen Schutzmaßnahmen
getroffen hat.
Diese Hürden werden aber immer mehr von Strömungen ausgenutzt,
die die Demokratie abschaffen wollen. Einerseits, weil sie
grundsätzlich nicht mit demokratischen Werten übereinstimmen,
andererseits, weil sie damit schlicht ihre Machtbasis verbreitern
wollen. Die sich in Auflösung befindlichen Ränder der politischen
Parteien sind das Becken, in dem diese Gruppen fischen. Von der
Politik der letzten Jahrzehnte enttäuschte Menschen, die keine
andere Alternativen mehr sehen oder sehen wollen.
Und dann gibt es zusätzlich noch eine Gruppe aus den vor allem im
letzten Jahrzehnt nach Europa gekommenen Migranten. Die einen
haben keine historisch gewachsene Erfahrung im Umgang mit
Demokratien, die anderen haben Schwierigkeiten, einen säkularen
Staat zu akzeptieren, der im Gegensatz zu ihren religiösen
Überzeugungen steht. Beide Gruppen machen dies auch auf
Demonstrationen deutlich. Wie neulich in Berlin oder Essen.
Historisch betrachtet, ist das nichts Neues. Gesellschaften
neigen dazu, sich in eine Art tödliche Spirale zu begeben. Nach
dem wirtschaftlichen Erfolg (wie zum Beispiel die 50er- und
60er-Jahre in Deutschland) tritt man in eine Phase der
Selbstzufriedenheit ein. Hier waren es die 70er-Jahre) Es folgt
eine Phase der Überregulierung (80er- und 90er-Jahre), vor allem
in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche. Einzelne Elemente einer
Gesellschaft nutzen Machtpositionen aus und verhindern notwendige
Anpassungen, die Gesellschaft driftet finanziell auseinander
(seit den frühen 2000ern) Es kommt zu Aufständen, religiösem
Eifer, politischen Ausfransungen usw. Tausendmal gesehen, es gibt
unzählige Bücher dazu.
Eigentlich sollte man meinen, müsste man aus diesen gut
dokumentierten Vorgängen der Geschichte, die zuletzt vor noch
nicht mal 100 Jahren stattgefunden haben, etwas gelernt haben.
Aber scheinbar ist das nicht der Fall. Die freiheitsliebenden
Demokratien und Gesellschaften stehen der Intoleranz mit der
gleichen Hilflosigkeit gegenüber, wie das Generationen vor ihnen
der Fall war. Der Niedergang demokratischer Kulturen ist deutlich
sichtbar.
Die Mittel der "wehrhaften Demokratie" bestehen vor allem aus
langwierigen rechtlichen Prozessen, um ihre Feinde zu bezwingen.
Aber reichen diese Mittel heute noch aus? Wie geht man mit
Feinden um, die die Demokratie auslachen? Ich habe das Gefühl,
dass die Demokratie dazu gezwungen sein könnte, ja vielleicht
sogar gezwungen werden muss, bei einer ernsthaften Bedrohung
Mittel anzuwenden, die ihrer Natur eigentlich widersprechen. Wenn
Feinde der Demokratie diese von innen aushöhlen, wenn das
Gewaltmonopol infrage gestellt wird, dann muss die Demokratie
darauf eine Antwort haben. Es kann nicht sein, dass
Rechtsextreme, Antisemiten oder Anti-Muslimische Kräfte, um nur
mal einige Beispiele zu nennen, das Wesen und den Charakter einer
Demokratie gefährden.
Womit ich wieder beim Toleranz-Paradoxon bin, das Karl Popper
beschrieben hat. Wenn die Intoleranten die Bedingungen des
Gesellschaftsvertrags verletzt haben, stehen sie daher nicht mehr
unter dessen Schutz. Doch das schafft dann wieder das nächste
Problem. Denn wer stellt fest, was intolerant ist und was nicht?
Die oben beschriebenen Mittel dürfen nicht so weit reichen, dass
sich die Demokratie dadurch wieder selbst gefährdet. Meint, es
müssen Mittel sein, die durch einzelne, durch welchen Umstand
auch immer an die Macht gekommene Gruppen, nicht ausgenutzt
werden können.
Toleranz auf staatlicher Ebene ist eine schwierige Gratwanderung.
Privat kann man das natürlich anders sehen, weil man nur Einfluss
auf sein Umfeld hat. Was dann wieder zu einer Dissonanz zwischen
Bürgern und Regierung führen kann. Man erlebt Momente, die man
selbst kennt. Um mal ein populistisches Beispiel zu nutzen:
"Warum wirft man Extremisten, die als Asylsuchenden in
Deutschland sind, nicht sofort raus? Warum wirft man jemanden,
der sich öffentlich den Tod dieser oder jener Gruppe fordert,
nicht sofort in Gefängnis?". Es ist dann genau diese Dissonanz
zwischen der eigenen gefühlten Toleranz, oder besser gesagt dem
Ende der Toleranz, und dem, was der Staat darf und kann, die auch
dazu führt, dass die Unzufriedenheit mit einer Regierung steigt.
"Die machen ja nichts da oben".
Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten in den späten 70ern und
80ern zu erinnern. Damals, als die RAF mit ihrem Terror
Deutschland überzog. Die Reaktionen waren damals ähnlich. Ein
nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, auch in meiner Familie,
plädierte für ein standrechtliches Erschießungskommando, sollte
man einen Terroristen festnehmen. Das hat der Staat nicht gemacht
und das war auch gut so. Der Staat machte, was er heute auch noch
macht. Erst mal verhandeln, so wie bei der Entführung von Peter
Lorenz, der wieder frei kam, als man etliche Gefangene entließ.
Aber er machte auch, nach dem Verhandlungen nur wenig brachten,
mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, sehr klar, dass
die RAF eine Linie überschritten hatte. Die Toleranz gegenüber
dieser Gruppe war aufgehoben, die Rechtsstaatlichkeit aber nicht.
Ich glaube, dass Demokratien diese Fähigkeit haben und auch
anwenden müssen. Und in manchen Fällen wenden sie sie einfach zu
spät an. Wenn sie aber gar nicht oder zu spät handeln, dann
verlieren sie entweder gegen die Intoleranten, die die Toleranz
einer Demokratie ausnutzen. Oder sie treiben die eigene
Bevölkerung in eine intolerante Haltung, die die Demokratie
genauso gefährdet.
Zum Abschluss noch mal Karl Popper, denn er hatte meiner Meinung
nach recht, als er schrieb:
"Unbegrenzte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen.
Wenn wir die grenzenlose Toleranz auch auf die Intoleranten
ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante
Gesellschaft gegen den Ansturm der Intoleranten zu verteidigen,
dann werden die Toleranten vernichtet, und die Toleranz mit
ihnen. - Mit dieser Formulierung will ich nicht sagen, dass wir
zum Beispiel die Äußerung intoleranter Philosophien immer
unterdrücken sollten; solange wir ihnen mit rationalen Argumenten
begegnen und sie durch die öffentliche Meinung in Schach halten
können, wäre eine Unterdrückung sicherlich höchst unklug. Aber
wir sollten das Recht beanspruchen, sie notfalls auch mit Gewalt
zu unterdrücken; denn es kann sich leicht herausstellen, dass sie
nicht bereit sind, uns auf der Ebene des rationalen Arguments zu
begegnen, sondern damit beginnen, jedes Argument zu denunzieren;
sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente zu
hören, weil sie trügerisch sind, und sie lehren, Argumente mit
dem Gebrauch ihrer Fäuste oder Pistolen zu beantworten. Wir
sollten daher im Namen der Toleranz das Recht einfordern, die
Intoleranten nicht zu tolerieren."
(Bilder: Dall-E, Dreamstudio)
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