Pavel Kohout: Die Henkerin
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Beschreibung
vor 1 Monat
Ich habe einen tschechischen Freund und kann das nur empfehlen.
Ein Jeder sollte einen tschechischen Freund haben, es hat nur
Vorteile!
Erstens trinkt man nie wieder schlechtes Bier. In welcher Schenke
auch immer man sich befindet, man schickt dem tschechischen
Freund ein Foto der Getränketafel und erhält binnen Sekunden die
Information, welche Biersorte zu empfehlen, welche zu meiden sei.
Nur kurze Zeit später folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte der
angebotenen Sorten, sowie der herstellenden Brauerei und
Informationen darüber, welche Fußballvereine der unteren
tschechischen Ligen das Getränk anbieten, samt zu erwartender
Preise in CZK und EUR.
Zweitens, kann man sich den Erwerb einer Wetterapp fürs
Smartphone sparen. Denn speziell im böhmischen Wetterkessel ist
man seit Jahrhunderten bewandert darin, exakte Vorhersagen über
Niederschlagszeiten und -mengen tätigen zu können, allein durch
einen Blick in den Himmel. Das Aufkommen moderner
Vorhersagetechnologie wird da nicht als Konkurrenz verstanden,
sondern als Bestätigung der eigenen Progonosefähigkeiten.
Drittens jedoch, eröffnet ein jedes Gespräch mit dem
tschechischen Freund einen Einblick in einen Kulturraum, den man
als Angehöriger eines so viel größeren Sprachgebiets zu oft mit
Ignoranz straft - zum eigenen Verlust. Dabei werden starke
Meinungen vertreten, nicht in Abgrenzung zu anderen Kulturen (ok,
die Polen ausgenommen), nein, ein jeder Tscheche, so hat man das
Gefühl, besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an Meinungen zu den
landeseigenen Kulturschaffenden aus Literatur, Theater, Funk und
Fernsehen. Und von Heavy Metal sollte man gar nicht erst
anfangen, wenn man vor dem Morgengrauen ins Bett möchte.
Das habe ich letztens nur knapp geschafft, nach einem Gespräch in
einer der in meiner deutschen Heimatstadt mittlerweile, und
dankenswerterweise, etablierten böhmischen Bierstuben. Ein
Gespräch, wie ich es in Prag und Brno, Ústí und Děčín an
Nachbartischen schon so oft sprachunfähig beneidet habe, endlich
war ich Teil davon, dank des tschechischen Freundes und seiner
Großmutter, denn die sprach deutsch und so tat er es ihr nach.
Zum Prager Urquell wurde gedisst (Kundera), genaserümpft (Havel),
stolzgebrüstet (Kafka). Anekdoten wurden erzählt,
selbsterlebt oder legendär in der Heimat. Und als ich kurz
überlegte, ob wir denn bei Lob und Verriss schon mal einen Autor
aus dem so nahen Nachbarland rezensiert hätten, fiel mir keiner
ein (weil ich alt bin, denn ich hatte natürlich “Klapperzahns
Wunderelf” vergessen.) Dennoch, nur ein einziger rezensierter
tschechischer Autor in 17 Jahren, das ist peinlich und traurig
und so nahm sich der tschechische Freund meiner an und empfahl
und verwarf, rang mit sich und der Welt, welche oder welcher es
denn sein solle, welches tschechische Buch baldmöglichst im
Studio B vorgestellt werden solle. Keiner der ganz großen: Kafka
hat zu wenig geschrieben und den hatten wir auch alle in der
Schule; Kundera ist doof und ein Verräter; keiner der Jungen:
Jaroslav Rudiš ist zwar witzig aber auch doof (vielleicht war er
auch witzig und cool, es gab Pilsner Urquell). Nach einigem
solchen Hin und Her leuchteten die Augen des tschechischen
Freundes plötzlich auf und es wurde festgelegt: Der Pavel Kohout
muss es sein! Hierzulande eher unbekannt, hat er ein Ouvré das
sich über Jahrzehnte erstreckt. Ja, man kann da etwas Neues,
Modernes lesen, aber es soll ein Roman sein, der von der Idee her
so entzückend und ergräulich zugleich sei, ja, der müsse es sein!
Des Buches Namen: “Die Henkerin”.
Ich hätte mir den Lesebefehl zwar sofort zu Herzen genommen und
die Kindle-App gestartet, mir wurde dennoch begeistert gespoilert
warum es “Die Henkerin” sein soll und wenn mir das widerfuhr,
widerfährt es auch der Rezensionsleserschaft, zumal der Spoiler
klitzeklein ist: das Folgende wird alles im ersten Teil des
Buches abgehandelt, der Kindle sagt innerhalb der ersten 7%, und
ist tatsächlich eine wunderschöne Romanidee und 1978 in der
Tschechoslowakei geschrieben, funktioniert sie auch tatsächlich
fast nur dort:
So wie alles in den sozialistischen Planwirtschaften des
Ostblocks, war auch die Berufswahl gesteuert und damit die
Verantwortlichkeit für die berufliche Zukunft der sozialistischen
Kinder nicht immer besonders verantwortlichen Beamten
unterstellt. An einen Ebensolchen gerät Lucie Tachecí mit ihrer
vierzehnjährigen Tochter Lízinka. Letztere hatte sowohl die
Voraussetzungen fürs Abitur knapp verpasst als auch die zur
Musikhochschule. Der Tochter eines Philologen und einer Hausfrau
mit Niveau drohte ein Abgleiten in ein proletarisches Leben. Eine
Katastrophe vor allem für die Mutter, der Herr Professor lebt eh
in einer Welt zwischen syn- und diachronischer Syntax. Also
ließ Frau Tachecí, wie das damals so war, ihre Beziehungen
spielen und erfuhr, wer der aktuelle Vorsitzende der
Berufsberatungskommission ist, es sei ein Herr, dem man wohl mit
ein bisschen weiblichen Reizen oder einer Flasche Kognak den Kopf
verdrehen könne. Und so blieb also es wieder mal an ihr hängen,
denn ihr Mann, der Professor, ist zu weltfremd und unfähig auch
nur eine klitzekleine Bestechung vorzunehmen. Es takeln sich
Mutter und Tochter auf, nur um beim Betreten des
Kommisionszimmers gewahr zu werden, dass die Information nicht
ganz aktuell war: es gibt einen neuen Komissionsvorsitzenden und
der ist ein grauer, böser Mann, absolut unbestechlich, weder
durch ausländische Schnäpse, noch durch weibliche Busen. Eine
Katastrophe. Es werden verschiedene Berufswege aufgezeigt,
Bäuerin!, Bäckerin!, alles komplett unakzeptable, nicht
standesgemäße Professionen. Verzweifelt und den Tränen nahe,
wenden sich die beiden Damen ab, als dem Herrn Vorsitzenden
einfällt, dass es im Ordner PST aka “Papiere streng geheimer
Natur”, doch kürzlich ein neues Stellenangebot gab. Er stellt
Lízinka ein paar seltsame Fragen: wie sie sich selbst einschätze,
zum Beispiel, sei sie jemand, bei deren Anblick in unangenehmen
Situationen man sich eher besänftigt fühlen würde, was sie
durchaus bejahte. Auch, so stellte er fest, seien ihre
intellektuellen Leistungen nicht so weit von der Abiturreife
entfernt. Er habe hier eine ganz besondere Stelle im Angebot: so
die Tochter und die Mutter es denn wünschten, könnte Lízinka eine
einjährige Ausbildung zur Vollstreckerin mit Abitur annehmen. Die
Mutter, im Angesicht der drohenden Alternativen: Bäuerin oder
Bäckerin, kaum noch aufnahmefähig, nimmt an, ja klar, eine
Vollstreckerin, klingt wichtig, es sei so!
Wir, im Besitz der Information über den Titel des Buches wissen,
was die Tochter da unterschrieben hat und auch die Eltern lernen
bald, dass ihre Tochter - eine Henkerin werden wird!
Wir deutsche Leser freuen uns über ein gelungenes Setup und
hinterfragen zunächst nicht, ob es denn in 1978 in der ČSSR noch
die Todesstrafe gab. Um ehrlich zu sein, wir können es uns nicht
vorstellen. Zu liberal ist unsere Welt, zu aufgeklärt das Europa,
in dem wir den Roman fast fünfzig Jahre später lesen, war doch
schon 1964 in Großbritannien der letzte Henker in Ruhestand
gegangen. Welch ein Verlust für die Gesellschaft, meint der
fiktive Professor Wolf im Roman, halte doch die ultimative Strafe
Verbrecher, wie potentielle solche, auf Trapp und, machen wir uns
nichts vor, der Mensch ist schlecht, ein jeder steht mit einem
Bein in der Guillotine. Und natürlich hat Professor Wolf auch zu
dieser eine Meinung: abzulehnen, nicht handwerklich genug. Er hat
überhaupt zu allem eine Meinung, was das regulierte Umbringen von
Menschen betrifft und Pavel Kohout gibt uns durch ihn einen
faszinierenden, von Quellen nur so sprudelnden Abriss über das
Wesen des Unwesens mit dem sich Menschen seitdem sie sich
Schürzen vor die Lenden binden gegenseitig reguliert umbringen.
Und da geht es nicht nur um das “warum”, nein, es geht vor allem
um das “wie”. Erschießen: zu unpersönlich, Kopf abhacken: muss
man üben, Garotte: eigentlich recht elegant - aber es gibt an
sich nur eine wahre Art der Hinrichtung und das ist der
fachgerechte Genickbruch durch den Strang. Diese jahrhundertealte
Kunst gelte es zu bewahren, weshalb Professor Wolf seit Jahren im
Rahmen der politischen Verháltnisse in der Tschechoslowakei
Lobbyarbeit betreibt um eine Lehre, nein, eine Schule, nein, noch
besser: eine Universität des Hinrichtens zu etablieren. Dabei
findet er Mitstreiter in allen Ebenenen der Justiz:
Staatsanwälten und Verteidigern, die in wilder Ehe leben,
perverse Richtern, korrupte Politiker und einem Stamm von Azubis
hat er sich auch schon besorgt, sechs Jungs mit unterschiedlichen
Qualifikationen: Tierquäler, Söhne von Vollzugsbeamten oder
geschickte Metzgerssöhne. Nun hat er aber sieben
Ausbildungsstellen zum Henker bewilligt bekommen, weshalb die
Ausschreibung in der Mappe der Berufsberatungsstelle gelandet
war. Als sie von der Vermittlung eines Mädchens erfuhren, waren
Professor Wolf und sein Assisten Schimmsa eher skeptisch aber
bald überzeugte man sich, dass das ein kongenialer Schachzug sei,
es sei nun mal das Zeitalter der Emanzipation der Frau zumal ein
historische Präzedent, zudem die beeindruckende Leistung der
potentiellen Henkerin in der Eignungsprüfung die Herzen der
Pädagogen höher schlagen ließen - und das alles hatte natürlich
überhaupt nichts mit dem zauberhaften Aussehen der neuen
Studentin zu tun.
Das alles wurde geschrieben um das Jahr 1978 herum, 12 Jahre, ein
Systemwechsel und eine Landestrennung vor der Abschaffung der
Todesstrafe. Denn, ja, als das Buch geschrieben wurde, gab es sie
in der CSSR (wie auch in der DDR) noch und wir können uns
nur wundern, wie kam dieses Buch durch die Zensur? Kam es
natürlich nicht. Pavel Kohout, Jahrgang 1928, mitunterzeichner
der Charta 77, war, als er den Roman schrieb bereits mit einem
Bein im österreichische Exil.
Aber ok, warum liest man das heute, fast fünfzig Jahre später.
Die einen werden einwenden “Warum liest man überhaupt alte
Bücher?” und ich sage “Exakt!” und bin damit sicher nicht in der
Minderheit. Anne Findeisen guckt mich dabei naserümpfend an und
Irmgard Lumpini möchte auch, kann aber nicht, ich kenne ihre
Leseliste - alles neues Zeugs. Ich bin nicht mehr in der Schule,
wo die Zolas, die Gorkis und die Kants Pflicht waren und lasse es
normalerweise mit Neuerscheinungen Galore krachen. Und trotzdem,
am Ende hab ich die Henkerin zu Ende gelesen. Natürlich ein
bisschen aus Pflichtgefühl dem tschechischen Freund gegenüber. Es
liest sich schon ein bisschen zäh, das Tempo der 70er ist nicht
kompatibel mit unserer aktuellen Aufmerksamkeitsspanne. Aber
Kohout schafft es zu fesseln. Da ist zunächst das Sujet: Endlos
Tote, Grime und Splatter, es passt in die Zeit, wie fast nichts
und wenn ich in Hollywood wäre, hätte ich mir die Rechte schon
lange unter den Nagel gerissen, das Script in die 2020er
verpflanzt und mir von der Netflixkohle eine Insel vor Hawaii
gekauft. Denn, so skurril das Buch beginnt, als nicht viel mehr
als eine Sozialkomödie, fast Slapstick, so deep, wie man heute
sagt, wird es nur wenig später. Wir merken, spoilerfrei, dass die
Henkerin selbst physisch passiv bleibt, nachdem sie ihr Talent in
der Eignungsprüfung beeindruckend unter Beweis gestellt hatte,
indem sie einem Karpfen und einem Huhn ohne zu zögern den Kopf
abhieb. Aber als Fremdkörper in einer Männerwelt voller Süchte,
Sehnsucht, Selbstbetrug und Schweinereien treibt sie sirenenhaft
einen Protagonisten nach dem anderen in den Wahnsinn. Diese
Storyline nimmt Kohout zum Anlass aus der reinen Groteske, der
tiefschwarzen Satire des real existieren Sozialismus, einen
tiefen Blick in unser aller Möglichkeiten zu Selbstbetrug,
-verliebtheit, -gerechtigkeit bis zum Selbstmord zu werfen.
Keiner der Protagonisten in ihrer Niedertracht oder auch nur
abgrundtiefen Bescheuertheit ist sympathisch, aber wir alle
finden etwas von ihnen in uns und das ist der wahre Schrecken
eines sich schlussendlich zum amtlichen Horrorroman wandelnden
Werkes: Es wird alles an Schweinereien geben, die der Mensch
sich, seinen Mitmenschen oder auch “nur” -tieren antun kann und
doch ist keine der Szenen sinnfreie Splatter, alles ist
Philosophie, Psychologie, Geschichte. Das alles durchzogen von
diesem speziellen tschechischen Humor, den, so scheint mir, wir
Deutschen nicht wirklich verstehen. Aber als 1/8 Schlesier und
Dresdner ist man ja fast ein Tscheche, ich habe also an allen
unmöglichen und verbotenen Stellen laut lachen müssen, sorry
dafür, ich lache bekanntermaßen über alles. Für ernstere Menschen
konstatiere ich: man muss es ausprobiert haben, das Taschenbuch
kostet drei EUR, eine Menge Leser werden es aus
unterschiedlichsten Gründen nach 50 Seiten weglegen, aber ein
paar Prozente kommen mit der Sprache zurecht, dem Humor und dem
Sujet und für diese ist es ein ganz außergewöhnliches Buch, das
sie ihr Lebtag nicht vergessen werden!
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