Düstere Zukunftsvision oder beißende Satire

Düstere Zukunftsvision oder beißende Satire

„Big Brother is watching you“ – der Satz aus George Orwells Roman „Neunzehnhundertvierundachtzig“ ist zum Inbegriff für den totalen Überwachungsstaat geworden. Das Buch erschien 1949 und wurde ein Welterfolg.
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vor 1 Monat

Düstere Zukunftsvision oder beißende Satire?


„Big Brother is watching you“ – der Satz aus George Orwells Roman
„Neunzehnhundertvierundachtzig“ ist zum Inbegriff für den totalen
Überwachungsstaat geworden. Das Buch erschien 1949 und wurde ein
Welterfolg.


Diese Diktatur versucht gar nicht erst, ihre Grausamkeit als
hehres Anliegen zu verbrämen. Sie gibt sich keine Mühe,
menschenverachtende Gewalt als harte, aber notwendige Maßnahme
erscheinen zu lassen, die dem Wahren und Guten dient. Das
unterscheidet das Leben in George Orwells Roman
„Neunzehnhundertvierundachtzig“ von realen totalitären Systemen.
Ob unter Hitlers oder Stalins Tyrannei oder in gegenwärtigen
Diktaturen – immer wird der Bevölkerung vorgegaukelt, das Regime
sei im Recht und führe das Volk in eine strahlende Zukunft.



Orwells Protagonist Winston versteckt sich mit seiner Geliebten
Julia vor der totalen Überwachung, ist aber von Anfang an im
Visier der allmächtigen Partei. Er wird überführt, verhaftet und
gefoltert. Und sagt irgendwann zu seinem Peiniger: „Ihr herrscht
über uns zu unserem eigenen Besten.“ Winston wird belehrt: „Die
Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an.
Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen. (…) Macht ist kein
Mittel, sie ist ein Zweck. (…) Der Zweck der Macht ist die
Macht.“



In Orwells Roman ist die Überwachung total. Dem allgegenwärtigen
Bildschirm (telescreen) entgeht nichts. Das Gerät ist zugleich
Sender und Empfänger, selbst in Privatwohnungen kann es nicht
abgeschaltet werden. Auch wenn andere Technik wie Rohrpost oder
Wachswalzen-Tonaufnahmen heute altertümlich anmutet, funktioniert
die Kontrollmaschinerie perfekt. Die Gedankenpolizei verfolgt
abweichendes Denken, Kinder denunzieren ihre Eltern. Die Sprache
wird so umgekrempelt, dass bestimmte Begriffe und Gedanken, die
dem System widersprechen, nicht mehr möglich sind. Das Ergebnis:
eine „Neusprache“ (Newspeak).



Es mag scheinen, als hätte die Wirklichkeit von 2024 Orwells Welt
eingeholt. In China gibt es Gesichtserkennung im öffentlichen
Raum, ebenso Geschichtsverfälschung. Eine ganze Generation hat
vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 noch nie gehört. In
Russland biegt Putin die russische und ukrainische Geschichte
zurecht, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Wer diese
„militärische Spezialoperation“ Krieg nennt, wird bestraft. In
den USA sprach eine Beraterin Präsident Trumps 2017 von
„alternativen Fakten“, um offensichtlich falsche Aussagen zu
seiner Amtseinführung zu rechtfertigen.



Orwell, 1903 im damaligen Britisch-Indien als Eric Arthur Blair
geboren, nahm 1936 als Freiwilliger auf republikanischer Seite am
Spanischen Bürgerkrieg teil. Dort begegnete ihm Terror, der
seiner Vorstellung von einem „demokratischen Sozialismus“ krass
widersprach. Der „Große Bruder“, Personifizierung der Macht in
Orwells Roman, trägt Züge Stalins.



Häufig wird „Neunzehnhundertvierundachtzig“ als Warnung vor
politischem Totalitarismus verstanden. Ralph Pordzik, Professor
für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft in Würzburg,
weist jedoch darauf hin, dass „Nineteen Eighty-Four“ eher eine
gelungene Satire als eine „ernstzunehmende Warnung vor einer
unbestimmten Zukunft“ ist. Denn der Roman enthält einen Anhang,
„der aus der Perspektive der Nachzukunft geschrieben ist“ und
über die Welt von „Neunzehnhundertvierundachtzig“ in der
Vergangenheit spricht.



Daraus ergebe sich, „dass Orwell selbst an eine Überwindung
derart repressiver Systeme mithilfe der sprachlichen Vernunft
gedacht haben muss“, erläutert Pordzik. „Die Welt, in der Winston
Smith 1984 lebte, ist also selbst irgendwann untergegangen,
vermutlich weil die Reprogrammierung der Bevölkerung durch eine
künstliche Sprache, das Newspeak, gescheitert ist.“



Gerade in der Sprache sieht der Anglist „ein starkes Instrument
der satirischen Grundausrichtung des Romans, mit der Orwell auf
eine Kritik der hohlen Phrase und der sperrenden Katalogsprache
ideologischer Fraktionen in den von Polarisierung geprägten
1940er Jahren abzielt.“ Die Gefahr der Plattitüde lauere überall,
wo der Bevölkerung schlichte Botschaften vermittelt werden
sollen. „Sprachliche Mehrdeutigkeiten und interpretative
Freiräume müssen zum Erreichen dieses Ziels unbedingt unterbunden
werden.“



In den Staaten des Ostblocks war das Buch verboten, weil es den
Sozialismus verunglimpfe. Heute ist es in Belarus verboten.
„Politische Systeme, die ‚Nineteen Eighty-Four‘ verbieten, sind
sich der Potenziale dieses außergewöhnlichen Romans, autoritäre
Herrschaftsformen herauszufordern und radikal in Frage zu
stellen, offensichtlich bewusst“, erklärt Pordzik. „Sie fürchten
sich davor, zur Karikatur oder Zielscheibe satirischer
Darstellungen zu werden, vor allem, wenn diese mit subtilen
ästhetischen Mitteln inszeniert werden.“ So werde die schon
häufiger für tot erklärte Fähigkeit der Literatur unter Beweis
gestellt, den Kampf um Gerechtigkeit und Demokratie mit ihren
eigenen Mitteln zu führen.



Orwell starb 1950, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen seines
letzten Werks. „Nineteen Eighty-Four“ wurde in 30 Sprachen
übersetzt und erzielte Auflagen von vielen Millionen. Am Ende des
Buchs, körperlich und seelisch gebrochen, ist Winston so weit.
Die Gehirnwäsche, „Umschulung“ genannt, ist erfolgreich. Der
Roman schließt: „Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er
liebte den Großen Bruder.“

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