"Vor dem Gesetz" (Franz Kafka)

"Vor dem Gesetz" (Franz Kafka)

Eine Geschichte aus dem Jahr 1915
4 Minuten
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Hochwertige Literatur, vorgelesen von professionellen Sprecherinnen und Sprechern

Beschreibung

vor 1 Tag

Franz Kafka ist ein Autor, der Szenen erzählerisch so scharf
konturiert und plastisch macht, dass Leserin und Leser emotional
stark berührt werden. Die Situation, welche die Emotion
provoziert, ist meist ungewöhnlich, originell, neu. Eine
Verwandlung in ein Ungeziefer etwa, die Begegnung mit zwei auf-
und abspringenden Tischtennisbällen oder auch mal ein „Mann vom
Lande“, der eine Reise hinter sich hat und sich nun an seinem
Ziel wähnt. Doch er steht nur davor, vor dem Tor zum Gesetz. Der
Eintritt sei möglich, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“.
Jahrelang nicht. Das Warten macht den Mann „kindisch“, er
entwickelt sich zurück, schrumpft, kann kaum noch sprechen.
Bestechungsversuche scheitern ebenso wie der Plan, die Flöhe im
Pelzkragen des Türhüters als Helfer einzuspannen. Am Ende seiner
Lebenszeit, immer noch an Ort und Stelle, wird klar, dass sich
hinter dem Tor kein allgemeines Gesetz, sondern offenbar ein
individuelles befindet. „Hier konnte niemand sonst Einlass
erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt“, sagt
der Türhüter und schließt ihn.


Was einerseits bitter klingt, ist andererseits komisch im
ursprünglichen Sinne. Denn in „Vor dem Gesetz“ entsteht die
merkwürdige Situation überhaupt nur, weil der Mann vom Lande eine
übliche, allgemein gebräuchliche Metapher wörtlich nimmt, also
missversteht. Er bittet um den Zugang zum Gesetz, weil es „doch
jedem und immer zugänglich sein“ sollte. Und kurioserweise findet
er tatsächlich einen Ort, an dem das Gesetz existiert – so ist
das bei Kafka. Jedoch: Eintritt derzeit verboten! Kein Zugang zum
Gesetz! Weder im eigentlichen noch im übertragenen,
metaphorischen Sinn.


Kafka schrieb mit „Vor dem Gesetz“ einen der meistinterpretierten
literarischen Texte des gesamten letzten Jahrhunderts – das in
glasklarem Deutsch und äußerst prägnant. Zu lesen ist er als Teil
des Romans „Der Prozess“, der zu Lebzeiten des Autors
unveröffentlicht blieb. Als eigenständige Erzählung erschien er
im Jahr 1915. Wir hören eine Aufnahme von Günther Rohkemper –
dies mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen
Blindenhörbücherei in Münster.

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