Episode 23: Geschwister-Logik

Episode 23: Geschwister-Logik

51 Minuten

Beschreibung

vor 3 Wochen
Stefani Engelstein (Duke University) spricht mit Stefan Willer (HU
Berlin) über ihr Buch »Geschwister-Logik. Genealogisches Denken in
der Literatur und den Wissenschaften der Moderne« (Berlin: De
Gruyter 2024). Darin spürt sie Geschwisterbeziehungen nach, die in
Genealogien oft zugunsten der vertikalen Abfolge der Generationen
vergessen werden. Welche neuen Perspektiven eröffnet der Blick auf
horizontale Verästelungen für Fragen der Ähnlichkeit und Identität?
Und welche Rolle spielt die Literatur bei der Verhandlung von
Geschwisterverhältnissen? ———————— Im langen 19. Jahrhundert werden
in den verschiedensten Wissenschaften genealogische Modelle
eingesetzt, um Wissen zu organisieren. Ein wichtiges Werkzeug ist
dabei das Modell des Stammbaums, das in so unterschiedlichen
Disziplinen wie der Sprachwissenschaft und der Evolutionsbiologie
zum Einsatz kommt. In der Philologie dient es der Untersuchung
literarischer Verwandtschaftsverhältnisse. Bereits bei Ödipus lässt
sich nachlesen, dass die Literatur nicht nur von Eltern und
Kindern, sondern auch von Geschwistern bevölkert ist. Um 1800 gibt
es dann eine ganze Flut von Geschwistern in der Literatur.
Zugespitzt im Zwilling oder Doppelgänger verkörpern sie ein
Gegenüber, das weder ganz selbst noch ganz das andere ist. Die
titelgebende Geschwister-Logik setzt der vertikalen
Abstammungslogik und dem mit ihr verbundenen essentialistischen
Subjektverständnis eine Auffassung von Identität entgegen, die auf
veränderlichen Größen wie Ähnlichkeit und Differenz beruht.
Besonders deutlich wird dies in Darwins Ȇber die Entstehung der
Arten«, wo sich der Stammbaum, der vermeintlich eine gegebene
Genealogie rekonstruiert, als Instrument zu deren Konstruktion
erweist. Die Abwesenheit ›natürlicher Arten‹, die Notwendigkeit,
deren Grenzen selbst zu bestimmen, entpuppt sich für Darwin als
mindestens ebenso unheimlich wie die angenommene Verwandtschaft
zwischen Mensch und Affe. Stefani Engelstein und Stefan Willer
gehen im Gespräch auch gängigen psychoanalytischen Deutungen
geschwisterlicher Beziehungen nach und stellen die verbreitete
literaturwissenschaftliche Interpretation von Geschwistern als
Ersatz für das gleichgeschlechtliche Elternteil auf den Prüfstand.
Dabei wird die gängige Lesart von Ismenes Liebe zu ihrer Schwester
Antigone als Hysterie und von Antigones Liebe zu ihrem Bruder
Polyneikes als Heldentum einer kritischen Überprüfung unterzogen.
Im Austausch mit dem Übersetzer André Hansen und der Lektorin Gesa
Steinbrink wird deutlich, wie sehr die Diskurse und Traditionen
genealogischen Denkens selbst zeit-, orts- und sprachgebunden sind.
Besonders deutlich wird das am Umgang mit dem englischen Begriff
›race‹ und seiner Übertragung ins Deutsche. Wie sollen wir mit
Kategorien und Trennungen umgehen, die zwar auf menschliche
Erfindungen zurückgehen und einer validen naturwissenschaftlichen
Grundlage entbehren, aber dennoch das Verhalten und die
Lebensgeschichten von Menschen prägen, zu Ungerechtigkeiten führen
und reales Leid verursachen? ———————— Stefani Engelstein ist
Professor of German Studies und Professor of Gender, Sexuality, and
Feminist Studies an der Duke University. Sie war mehrfach zu Gast
am ZfL, zuletzt von 2023–2024 als Guggenheim, Fulbright und
National Endowment for the Humanities Fellow mit einem Projekt zu
»Geschlecht und Gegensatz«. Ihr Buch »Sibling Action: The
Genealogical Structure of Modernity« erschien 2017 auf Englisch und
wurde 2024 von André Hansen ins Deutsche übersetzt. Stefan Willer
ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der
Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er
stellvertretender Direktor des ZfL und forschte dort zuvor in
verschiedenen Projekten zu den Konzepten von Generation und
Genealogie, darunter »Erbe, Erbschaft, Vererbung.
Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen
Wandel«. Das Gespräch wurde am 17.7.2024 im ZfL aufgezeichnet.
www.zfl-berlin.org

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