Wenn der Horizont kommt
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vor 1 Monat
„Immer auf den Horizont schauen!“, rief mir der Skipper zu. Wir
waren segeln und hatten für meine Verhältnisse hohen Seegang. Ich
war kurz unter Deck gewesen, und mir war, gelinde gesagt,
hundeelend. „Immer auf den Horizont schauen!“, wiederholte der
Freund. Das funktionierte. Je klarer ich immer wieder den
Horizont fixierte und mich perspektivisch an ihm festmachte, umso
mehr stellte sich die innere Ordnung wieder her und umso
souveräner wurde ich im Umgang mit dem Wellengang. Nach einer
Weile empfand ich sogar eine Freude in der Herausforderung, mit
den Wellen und dem Hin- und Hergeworfenwerden des Bootes
umzugehen. Solange ich den Horizont im Blick hatte, konnte ich
selbst mit erheblichen Schwankungen des Augenblicks gut umgehen.
„Immer auf den Horizont schauen!“, an den Rat muss ich seitdem
oft denken. In den Herausforderungen des Alltags, im
Geworfenwerden von inneren und äußeren Bewegungen,
Widerfahrnissen oder Auseinandersetzungen denke ich an den Blick
zum Horizont.
Für Christen freilich ist der haltgebende Horizont mehr als bloß
eine ferne Linie, die zwischen Himmel und Erde verläuft. Der
denkende, betrachtende und betende Blick auf Jesus Christus ist
für Christen die Orientierung an jener Stelle in der Welt, die
Halt geben und die innere Ordnung wieder herstellen kann. Auch
wenn sich einem angesichts der Schwankungen des Lebens eigentlich
der Magen umdreht und einem Hören und Sehen vergeht.
„Das mit dem Horizont funktioniert, solange man ihn sehen kann“,
meinte dieser Tage ein Vielsegler als ich ihm von dem Bild vom
Horizont als Halt erzählte.
Auf See wie im Leben kann es nämlich passieren, dass einem alle
Orientierungspunkte abhandenkommen. Es gibt Lebensumstände, in
denen alles, wovon ein Mensch meinte, dass es ihm Halt gibt, ins
Wanken gerät: Güter, Beziehungen, Überzeugungen, ja sogar für
unwiderlegbar gehaltene Fakten des Lebens, der Wissenschaft, des
Universums.
Davon erzählen die Evangelien in den Bildern von der Vollendung
der Welt und des einzelnen Menschenlebens. Alles wird in Bewegung
geraten, sagt Jesus im Lukasevangelium am Ersten Advent: „Zeichen
geschehen an Sonne, Mond und Sternen.“ – Ich muss bei der
Aufzählung immer an das Lied von der Laterne denken, wo „Sonne,
Mond und Sterne“ gewissermaßen die kindlichen Stabilitätsgaranten
der Welt sind, in der „meine Laterne mit mir“ geht.
Was gerade noch das Allerstabilste zu sein schien, „die Kräfte
des Himmels“, die Bezugspunkte menschlicher Orientierung
schlechthin, „werden erschüttert“, das Meer tobt und donnert, die
Völker sind „bestürzt und ratlos“ und die Menschen „vergehen vor
Angst“. Kein Horizont ist mehr zu sehen und nichts, was noch
irgendwie Halt geben könnte, weil alles in Bewegung gerät,
verdunkelt und vergeht.
In diesem Szenario genügt der Hinweis „Immer auf den Horizont
schauen!“ nicht mehr, weil kein Horizont mehr zu sehen ist. Es
kommt der Moment, da kein Halt mehr bleibt, nach dem ich mich
ausstrecken könnte. – Es sei denn, der Halt, der Haltgeber und
Erhalter kommt zu mir – durch alles Vergehen und alle
Haltlosigkeit hindurch:
„Dann wird man den Menschensohn in einer Wolke kommen sehen mit
großer Kraft und Herrlichkeit“, sagt Jesus von seinem
Wiederkommen. Das wird überwältigend sein. Nicht nur für uns.
Auch für die Gewalten und Mächte der Welt und des Universums.
Und bis dahin? Bis dahin sollen wir einander daran erinnern, dass
er in seiner Menschwerdung schon zu uns ins Boot gekommen ist –
diesseits der Welle und mitten in den Sturm. Dass der
Auferstandene im Geist unsichtbar gegenwärtig ist und dass sein
Wort bleibt und sein Versprechen gilt. Auch dann noch, wenn alles
vergeht und die meisten Worte Schall und Rauch sind.
Schaut zum Horizont. Und wenn ihr den nicht mehr sehen könnt,
denkt daran: Nicht wir erreichen den Horizont. Der Horizont
erreicht uns. Der uns hält und erhält kommt zu uns. Er hat es
versprochen. Also „richtet euch auf und erhebt euer Haupt, denn
eure Erlösung ist nahe.“
Fra’ Georg Lengerke
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